Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
Wesen, als sie sich – scheinbar ohne ihr Zutun – ausstreckte und auf Eleonoras Schulter landete.
»Ich war doch rechtzeitig da. Er hat dir nichts getan. Wenn du Angst vor ihm hast – ich sage es der Äbtissin. Sie und ich … wir arbeiten sehr oft im Spital zusammen, da kann ich mit ihr sprechen, wenn ich will. Du und ich, wir beide … Wir können auch …« Sie hielt inne und holte Luft, weil die Worte, die sich auf ihren Lippen bilden wollten, so fremdartig und ungewohnt waren. »Wir können auch hier im Zimmer zusammenbleiben, dann wagt er es nicht, dir nahezukommen.« Kühn setzte sie hinzu: »Und die Hühner – für sie kann ich im Garten einen kleinen Verschlag herrichten. Da kann ich auch die Eier für dich aufheben! Du kannst weiter deinen Kuchen backen. Ich will auch nichts davon haben, wenn du mir nichts abgeben willst.«
Sie war sicher, dass sie in den ganzen Monaten, seit Eleonora bei ihr in der Kammer schlief, nicht so viele Worte zu ihrer Zimmergenossin gesagt hatte, geschweige denn an einem Stück.
Eleonora musste dasselbe denken, denn sie öffnete die vom Weinen verklebten Augen und schniefte, mehr verdutzt als leidend. »Was ist mit dir los? Weshalb redest du so viel? Bist du krank?«
Sanchia nahm augenblicklich die Hand von Eleonoras Schulter und wandte sich ab. Ihr war fast übel, so peinlich waren ihr die eigenen Worte, die sie in ihrem Überschwang von sich gegeben hatte. Sie wusste selbst nicht, was sie dazu getrieben hatte. Seit ihrer Ankunft hatte sich Eleonora ihr gegenüber derart gehässig und arrogant benommen, dass Sanchia manchmal gemeint hatte, die Klostermauern müssten vor lauter Überdruss zusammenbrechen, hätten sie auch nur eine Spur Leben in sich getragen.
»Glaubst du etwa, ich weine wegen des Pfaffen?«, schluchzte Eleonora.
Ihr Ausbruch kam so unerwartet und laut, dass Sanchia zusammenfuhr.
»Dieser Trottel! Er redet und redet und merkt gar nicht, wie lächerlich er sich macht! Niemals würde ich seinetwegen auch nur eine einzige Träne vergießen! Er ist es ja nicht mal wert, dass man sich seinen Namen merkt, dieser dämliche Mönch!« Den Dominikaner nachäffend, fuhr sie verächtlich fort: »Lass mich deinen Krapfen probieren! Hab keine Angst vor mir!« Sie lachte wütend, um gleich darauf wieder loszuheulen.
Sanchia wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Sie verspürte kein Bedürfnis, auf Eleonoras Worte etwas zu erwidern.
Schweigend begann sie, sich auszukleiden, darauf bedacht, dass im trüben Licht der Talgkerze keine unziemlichen Körperstellen zum Vorschein kamen. Niemand hatte ihr je gesagt, dass ihre nackten Arme und Beine ein Anblick seien, der Gott missfiele – außer Bruder Ambrosio, der nicht müde wurde, es allen Nonnen mit genau diesen Worten zu versichern. Wenn man ihm glauben konnte, musste jede Frau in der ewigen Hölle schmoren, die mehr von sich sehen ließ als Gesicht und Hände.
Sanchia wusste selbst nicht, warum sie dem so viel Bedeutung beimaß. Sogar die Äbtissin streifte bei der Arbeit oft die Ärmel ihres Gewandes hoch und scherte sich auch nicht darum, wenn sie beim beherzten Anheben eines Patienten hin und wieder ein Stück Bein sehen ließ. Albieras Arme und Beine waren olivfarbig und stämmig, und an ihren Beinen wuchsen sogar Haare. Dennoch fand Sanchia daran nichts Anstößiges, auch nicht daran, dass Eleonora sich in ihrem Beisein entkleidete und ihre nackten Glieder zeigte.
Nur ihr eigener Köper schien sie mit Scham zu erfüllen. Sie hatte darüber nachgedacht und war zu dem Schluss gekommen, dass es an ihrer hellen Haut lag. Sie war am ganzen Körper so durchscheinend hell wie das Innere einer Muschelschale, und wenn es nach ihr ging, musste kein Mensch das sehen außer ihr selbst.
Eleonora merkte offenbar, dass niemand sich für ihr Leid interessierte. Sie setzte sich auf und schluchzte ein wenig leiser, ohne jedoch Anstalten zu machen, damit aufzuhören.
»Wieso ziehst du dich aus?«
Sanchia hielt ihr Kleid vor sich. »Ich will zu Bett gehen.«
»Wenn du schon wissen willst, warum ich so unglücklich bin, dann lies doch den Brief! Lies ihn, in Gottes Namen! Tu es endlich! Du machst es doch sonst auch immer, warum nicht jetzt?«
»Du wolltest nicht, dass ich deine Briefe lese«, sagte Sanchia beklommen. Rasch schlüpfte sie in ihr Nachthemd. »Es ist nicht recht, fremde Briefe zu lesen, hast du gesagt.«
Doch ihre Füße trugen sie bereits zu der Stelle, wo sie den Brief abgelegt hatte. Vorsichtig
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