Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
strich sie den feinen Bogen glatt, bis sie Lorenzos Schrift mit den kantigen Anfangsbuchstaben erkennen konnte. Er schrieb flüssig und fehlerfrei, es war eine Wohltat, seinen Zeilen zu folgen. Murmelnd überflog sie den Inhalt. Sie konnte inzwischen meist stumm lesen, doch wenn sie aufgeregt war, ging es besser, wenn sie die gelesenen Worte gleichzeitig mitsprach.
Durch diese Art zu lesen war sie überhaupt erst darauf gekommen, sich Lorenzos Briefe näher anschauen zu wollen. Eleonora hatte sie sich selbst jedes Mal mühsam Wort für Wort laut vorgelesen, weil sie es nicht besser konnte – damit hatte sie erst Sanchias Interesse geweckt.
Das Schreiben eines Briefes dauerte dementsprechend noch länger, dafür brauchte Eleonora oft Tage. Sie hatte wie die meisten Mädchen, die in Venedig überhaupt lesen und schreiben lernten, mit ihrem Bruder zusammen Unterricht erhalten, aus Ersparnisgründen und weil es eine sinnvolle Beschäftigung war – bis dieser vor zwei Jahren an einem Fieber gestorben war, was den Hauslehrer entbehrlich machte.
»Ein Taucheranzug!« Sanchia blickte von dem Brief auf, die Wangen glühend vor Aufregung. »Und eine Maschine, die nach allen Seiten schießen kann! Sie haben den Erfinder von Zypern mit nach Syrien genommen, und Lorenzo hat seine Entwürfe studiert! Ach, könnte er uns doch nur einen davon schicken!«
»Uns?« Eleonora fuhr auf. »Was redest du da!«
Sanchia senkte den Kopf, wütend auf sich selbst, weil sie sich so von ihrer Begeisterung hatte mitreißen lassen.
»Dass du dich an solchem Schwachsinn erfreuen kannst, hätte ich mir denken können! Lies den Brief zu Ende! Dann weißt du, warum ich leide!« Wie zum Beweis schluchzte Eleonora laut auf, schaffte es aber gleichzeitig, dabei erwartungsvoll auszusehen.
Sanchia las den Brief bis zum Schluss, diesmal mit zusammengekniffenen Lippen. Errötend ließ sie danach das Pergament sinken und wünschte sich, der Erdboden würde sich auftun, um sie zu verschlingen. Sie brachte kein Wort heraus.
»Sag doch was!«, schrie Eleonora. »Sprich zu mir! Ich werfe dich aus dem Fenster, wenn du jetzt wieder eine deiner gemeinen Schweigestrafen über mich verhängst!«
Aufgeschreckt von ihrem Geschrei, hüpfte Hector von seinem Kissen und flitzte kläffend in der Kammer hin und her.
Nebenan wurde gegen die Wand gehämmert. »Hier leben Menschen, die auch mal ihre Ruhe brauchen!«, kam es dumpf, aber unverkennbar erbost aus der Nachbarzelle.
Sanchia starrte Eleonora an, während sie sich geistesabwesend niederbeugte und beruhigend das Hündchen streichelte. »Ich schweige nicht, um dich zu bestrafen.«
»Welchen anderen vernünftigen Grund solltest du sonst haben? Aber gleichviel, es spielt keine Rolle!« Eleonora sprang aus dem Bett und riss ihr den Brief aus der Hand. Mit rasenden Bewegungen zerfetzte sie das Papier in kleine Schnipsel, die sie kreuz und quer durch das Zimmer warf. »Da! Das mache ich mit ihm! Das ist genau das, was er verdient hat, der treulose Schuft!« Sie reckte das Kinn. Ihre Augen schossen zornige Blitze. »Und das ist nicht alles! Ich weiß noch etwas viel Besseres! Ich werde den elenden Tauben das Genick umdrehen!«
Sie machte einen Schritt in Richtung Tür, als wollte sie ihre Ankündigung sofort in die Tat umsetzten. Sanchia trat ihr reflexartig in den Weg, und Eleonora prallte mit einem Laut des Unmuts gegen sie.
»Das kannst du nicht tun«, sagte Sanchia. Sie ließ den Hund los, der sich wieder in seine Ecke trollte. »Du würdest es bereuen. Vielleicht meint er es nicht so, vielleicht ist es nur eine …« – sie suchte nach dem Wort – »eine vorübergehende Laune. Ich bin sicher, er liebt sie nicht wirklich! Er kennt sie doch gar nicht, und wenn sie nicht sprechen kann – wie will er dann wissen, was für ein Mensch sie ist? Er kann nicht ernsthaft vorhaben, sie zu heiraten, schon gar nicht, wenn er sie dafür zuerst ihrem Herrn abkaufen muss. Und überhaupt – Nobili heiraten nicht einfach irgendwelche Sklavenmädchen, das geht gar nicht! Außerdem ist Lorenzo doch mit dir verlobt, das ist ein Versprechen, das er halten muss! Da kann er nicht von dir verlangen …« – sie rief sich die Stelle mit der gestelzt klingenden Formulierung in Erinnerung – » …von deinen Heiratsplänen Abstand zu nehmen!«
Eleonora hatte ihr stumm zugehört, und mit einem Mal schien eine Veränderung in ihr vorzugehen. Ihre Schultern sackten nach vorn, und sie begann wieder zu weinen. Doch
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