Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
fragen. Die Blonde … jedenfalls bin ich sicher, dass sie es war. Sie hat mir einmal einen merkwürdigen Brief geschrieben.«
»Das weiß ich.«
Lorenzo zog die Brauen zusammen. »Ich bin ziemlich sicher, dass ich ihn dir nicht gezeigt habe.«
»Das stimmt. Aber du hast ihn zusammen mit den anderen in deinen Seesack gesteckt, und so blieb er nicht verborgen, als du aus Syrien zurück warst. Mir fiel dann die undankbare Aufgabe zu, eine Antwort darauf zu überbringen, ebenso wie auf die anderen Briefe.«
Lorenzo zog sofort den naheliegenden Schluss. »Meine Mutter«, sagte er erbittert. »Welche Botschaft durftest du in meinem Namen vermitteln? Dass gewisse junge Damen aufhören mögen, mich zu belästigen?«
»Deine Cousine hatte sich eingebildet, du würdest sie aus dem Kloster befreien und sie heiraten, und dem war ein Ende zu setzen«, sagte Rufio sanft.
»Meinst du nicht, dass ich das selbst hätte erledigen können?«, fragte Lorenzo hitzig.
»Vielleicht hättest du dich unter anderen Umständen selbst darum kümmern können, aber du scheinst zu vergessen, dass du nur drei Tage nach deiner Rückkehr an der Pest erkrankt bist und vollauf damit beschäftigt warst, am Leben zu bleiben.«
Lorenzo wollte aufbegehren, doch dann wurde ihm klar, dass es sinnlos war. Rufio traf keine Schuld, folglich war es sinnlos, ihm Vorhaltungen zu machen. Ebenso sinnlos war es, seine Mutter mit Vorwürfen zu überhäufen. Sie würde sofort in Tränen ausbrechen und tagelang in ihren Gemächern verschwinden. Er erinnerte sich, wie besorgt sie damals ausgesehen hatte, als sie an sein Lager getreten war und ihm die Hand auf die Stirn gelegt hatte. Zu jener Zeit war er bereits wieder auf dem Wege der Genesung und alle Pestbeulen von seinem Körper verschwunden, sonst hätte sie nicht gewagt, ihn zu berühren.
»Die arme kleine Eleonora, sie ist wieder gesund. Ich habe mich um alles gekümmert. Deine Cousine wird dich künftig in Frieden lassen. Ebenso dieses bedauernswerte, verwirrte Geschöpf, mit dem sie eine Zelle teilt. Alles wird gut, mein Sohn.«
Rufio unterbrach seine Gedanken. »Geh zurück zu den anderen. Amüsier dich. Da sind genug Mädchen.«
Lorenzo betrachtete grüblerisch Sanchias leuchtend helles Haar. »Sie macht auf mich nicht den Eindruck, verwirrt zu sein.«
»Damals herrschten in dem Kloster Plünderung und Pest. Da war jeder verwirrt.«
»Sie hat etwas über ihre Eltern geschrieben … und über meine Mutter.«
»Du kennst doch deine Mutter.«
»Wirklich? Mir scheint, das Gegenteil ist der Fall.«
Lorenzos Aufmerksamkeit wurde von Sanchia abgelenkt. Etwa dreißig Schritte vom Kai entfernt entstand ein lautstarker Tumult. Kinder stießen Schreie aus und wichen von einer Stelle zurück, an der das Eis aufgeplatzt war.
Ein kleines Mädchen war eingebrochen und hielt sich einen Moment lang unter angstvollem Gewimmer an der Kante des Eisrandes fest. Dann verstummte es abrupt und versank im Wasser.
Ohne auf Rufios gefluchten Protest zu achten, rannte Lorenzo los und erreichte die Unglücksstelle binnen weniger Augenblicke. Die Kinder, eine Horde abgerissener Gassenrangen, kreischten vor Schreck und Entsetzen durcheinander.
»Meine kleine Schwester«, jammerte eines, dessen Gesicht so schmutzig war, dass man unmöglich sagen konnte, ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelte.
Lorenzo starrte angestrengt in das dunkle, an den Rändern ausgezackte Loch, doch er konnte in dem aufgewühlten Wasser nichts sehen.
»Sie ist hier drüben!«, rief eines der anderen Kinder.
Das Kind trieb unter dem Eis, ungefähr ein halbes Dutzend Schritte von dem Loch entfernt. Die Strömung zog es rasch weiter fort.
Lorenzo pumpte seine Lungen voll Luft und ließ sich in das eisige Wasser gleiten. Die Kälte traf ihn wie ein machtvoller Schlag und ließ seinen ganzen Körper taub werden.
Enrico, der das Geschehen untätig aus nächster Nähe verfolgt hatte, trat an den Rand des Loches. »Um Gottes willen, was tust du! Es ist doch nur eine Hafengöre!«
Doch Lorenzo hatte sich bereits abgestoßen und schob sich dicht unter die Eisoberfläche in die Richtung des Mädchens. Schon nach wenigen Schwimmzügen fühlten seine Lungen sich an, als würden sie bersten, und sein Kopf füllte sich mit einer eigentümlichen Leere. Aus den Augenwinkeln sah er eine träge dahintreibende Gestalt und ein bleiches, unbewegtes Kindergesicht. Seine Hand griff nach dem Mädchen, doch er fasste nur in die trübe Kälte, ohne
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