Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
außer einer Menge nützlicher Handgriffe eines von Albiera und später auch von Simon gelernt hatte, war es Wachsamkeit.
»Warum müssen wir so schnell weg?«, fragte Eleonora aufgekratzt und mit glühenden Wangen. »Das war … unglaublich! He, jetzt renn doch nicht so! Wir hätten noch dableiben und schauen können, ob sich das Kind erholt!«
»Es wird schon wieder zu Kräften kommen«, sagte Sanchia. »Wenn es nicht dieses Jahr ohnehin noch an Hunger oder einer anderen Krankheit stirbt.«
»Woher hast du gewusst, was zu tun ist? Dass man es an den Füßen hochheben muss?«
»Simon hat es mir erklärt. Gemacht habe ich es vorher noch nicht, aber er hat einmal ein Kind auf diese Weise gerettet und mir erzählt, wie es geht. In Venedig ertrinken jeden Tag Kinder, es sollten mehr Leute wissen, wie man in solchen Fällen hilft.«
»Du könntest es ihnen zeigen.«
»Besser nicht.«
Sie hatten die Menschenmenge hinter sich gelassen und strebten über die glatte Eisfläche der Kanäle eilig zurück in Richtung San Lorenzo. Moses trottete einige Schritte hinter ihnen her, beide Arme ausgestreckt, um die Balance zu halten. Hin und wieder glitt er aus und fiel auf die Kehrseite, um sich jedes Mal schimpfend wieder hochzurappeln.
Auf dem Eis lag ein Stück zerfetztes Segeltuch. Sanchia riss zwei Stücke davon ab und wickelte sie sich um die Füße, um nicht ständig auszurutschen. Es wurde zunehmend wässriger und würde bald wieder tauen. Die Sonne spiegelte sich in den Pfützen, die bereits überall standen. Von den steinernen Vorsprüngen an den Fassaden tropfte Wasser, sammelte sich an tiefer gelegenen Stellen und bildete vereinzelte Rinnsale in der Eisfläche. Aus dem Eingang eines Palazzo tauchte ein kleiner Hund auf, der mit unsicheren Schritten über das Eis tapste, in eine Pfütze urinierte und dann darin herumschnüffelte. Ein Diener kam ins Freie geschlittert und bedachte das entwichene Tier mit Schimpfworten. Er sah die jungen Frauen näherkommen, versetzte dem Hund einen Tritt und verschwand wieder im Inneren des Hauses. Den winselnden Welpen ließ er einfach sitzen.
»Hast du Elisabetta gesehen?« Im Vorbeigehen griff sich Eleonora beiläufig den Winzling von Hund und hob ihn auf. »Geschieht ihr recht, dass sie mit dem Fuß in das Loch gerutscht ist. Das kostet sie einen sehr guten Stiefel. Und da ein Stiefel alleine nicht viel taugt, wird sie mit dem anderen nichts mehr anfangen können.« Eleonora lächelte zufrieden, doch dann verfinsterte ihre Miene sich wieder. »Nur schade, dass dieser Mistkerl nicht ertrunken ist.«
»Das ist nicht dein Ernst.«
Eleonora seufzte, während sie den Welpen unter ihre Jacke schob. »Nein, natürlich nicht. Wäre er ertrunken, hätte er das Kind ja nicht retten können.« Ihre Augen leuchteten auf. »Du warst unglaublich! Woran konntest du sehen, dass er genau an der Stelle und zu diesem Zeitpunkt zum Vorschein kommen würde?«
»Das war nicht so schwer.«
»Aber niemand konnte das ahnen! Du hast es gewusst, einfach so.«
»Es war nicht mein Verdienst. Sein Sklave hat das Eis aufgehackt und ihn rausgeholt.«
»An der Stelle, die du ihm gezeigt hast«, hob Eleonora hervor. »Es war wie ein Wunder!«
Genau das war das Problem, dachte Sanchia. Die meisten Menschen hielten derlei Ereignisse nicht für ein Wunder oder für das, was es war – einfaches Nachdenken –, sondern schlicht für Hexerei. Es gebe, so hatte Albiera ihr mehrfach eingeschärft, genau drei Gründe, warum sie sich stets davor hüten müsse, durch ihre Heilkünste oder besonderes Wissen aufzufallen.
»Erstens: Du bist jung. Zweitens: Du bist ein Mädchen. Und drittens: Du bist anders. Alles zusammen reicht aus, um jemanden schon bei der kleinsten ungewöhnlichen Begebenheit auf die Folter zu schleppen. Es gibt Länder, in denen Frauen auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden, nur weil sie Heilkräuter verabreichen.«
Die Gefahr wurde unkalkulierbar, wenn alle Hilfe nichts nützte und ein Patient starb, was leider häufig vorkam. Sanchia hatte gut bei allem aufgepasst, was die Äbtissin und später der Arzt ihr beigebracht hatten, doch die Angst zu versagen war allgegenwärtig und schien immer größer zu werden, je mehr sie über die Krankheiten, die einen Menschen im Laufe seines Lebens heimsuchen konnten, in Erfahrung brachte.
»Du beherrschst so viele nützliche und kluge Dinge«, ließ sich Eleonora vernehmen. Es klang kläglich. Die Euphorie, die sie vorhin noch erfüllt hatte, war
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