Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
gewälzt. Von den Vorsprüngen und Balkonen hingen gefrorene Zapfen wie Vorhänge aus gezacktem Kristall. Hier und da waren Möwen zu sehen, die sich aus der erstarrten Wasserlandschaft der offenen Lagune landeinwärts zurückgezogen hatten und reglos auf Brüstungen und Pfählen hockten, das Gefieder gegen die Kälte aufgeplustert.
Als sich die weite Fläche des Canale di San Marco vor ihnen auftat, hielt Sanchia den Atem an. Vor ihnen erstreckte sich im matten Gegenlicht der Februarsonne eine glitzernde Einöde, silbrig überhaucht und scheinbar für alle Ewigkeit unberührt von zeitlichen Einflüssen.
Ein Schneeball traf Sanchia am Kopf und unterbrach ihre poetischen Gedanken über die Winterlandschaft. Die Stille und Unbeweglichkeit waren keineswegs so vollständig, wie der erste Blick auf die Weite der Lagune glauben machte. Trotz der eisigen Witterung herrschte überall reges Leben. Maskierte Gestalten waren auf der Piazetta zu sehen, auch wenn ihre Anzahl bei weitem nicht an den üblichen Karnevalsrummel heranreichte. Doch dafür ging es jenseits des Markusplatzes an ungewohnter Stelle umso lebhafter zu. Kinder aller Altersklassen bevölkerten mit fröhlichem Geschrei das Eis vor der Riva degli Schiavoni. Sie rutschten johlend auf und ab und schossen sich gegenseitig über die glatte Fläche Steine und Holzstücke zu. In einiger Entfernung bewegten sich sogar einzelne Schiffe. Sie wurden jedoch weder durch Segel noch Ruder angetrieben, sondern von der schieren Körperkraft Dutzender Treidler, welche die Boote mit Stricken durch eine vom Eis freigehauene Fahrrinne zogen. Die Schlepppfade waren mit Asche abgestreut, doch mehr als einmal rutschte einer der Männer auf dem Eis aus und kam fluchend zu Fall.
»Da drüben sind sie!« Eleonora deutete auf eine Gruppe dick gekleideter Mädchen, die mit einem halben Dutzend junger Männer auf dem Eis zusammenstanden.
»Elisabetta, Enrico, wir kommen!« Eleonora winkte fröhlich, erstarrte aber gleich darauf und hielt Sanchia am Ärmel fest.
»Was ist?«, fragte Sanchia.
Eleonora knirschte hörbar mit den Zähnen. »Da ist jemand, dem ich nicht unbedingt begegnen möchte.«
Wie zum Unterstreichen ihrer Worte begannen in diesem Augenblick die Glocken von San Marco ihr Geläut zur Mittagsstunde und verliehen der bis dahin beschaulichen Stimmung auf dem Eis einen Anstrich von Geschäftigkeit.
Sanchia hatte ihn ebenfalls gesehen und jede Lust verloren, weiterzugehen. Sie wusste nicht, ob es eher die Wut oder eher die Abneigung war, die ihre Schritte stocken ließen.
Lorenzo di Caloprini war einer der Menschen, die sich getrost für alle Zeiten aus ihrem Leben heraushalten durften. Er und seine Mutter. Am liebsten wäre ihr, es gäbe sie alle beide nicht.
Pasquale hatte damals nach ihrem Besuch in der Ca’ Caloprini gesagt, dass die Frau verrückt sei, und mittlerweile waren ihr im Kloster weitere Äußerungen zu Ohren gekommen, die diese Einschätzung durchaus glaubhaft klingen ließen.
Sie ist nicht normal, hatte es mehrfach geheißen, bis hin zu: Bei ihrer hysterischen Art kann sie froh sein, dass ihre Familie sie nicht in den Kanal wirft.
In einer Beziehung war Venedig wie ein Dorf – die meisten der adligen Frauen waren untereinander verwandt, und nicht wenige davon lebten in San Lorenzo und vertrieben sich die Langeweile mit Klatsch.
Es war folglich nicht seine Mutter, deretwegen Sanchia ihm zürnte. Das hatte er ganz allein bewirkt, durch sein ungeheuer rücksichtsloses Verhalten gegenüber Eleonora. Dass er sie selbst ebenfalls auf das Gröbste beleidigt hatte, ließ sie dabei sogar noch außer Acht.
Ihr letztes und einziges Zusammentreffen lag fast sieben Jahre zurück, doch sie hätte ihn unter hundert anderen jungen Edelmännern sofort wieder erkannt. Zu markant war der Schwung seines raubvogelartigen Profils und zu leuchtend das Blau seiner Augen. Sein schwarzes Haar war lang, aber anders als die übrigen Bravi di Calze trug er es nicht offen, sondern im Nacken zusammengebunden. Er war um einiges größer als damals und hatte einen kräftigen Bartschatten bekommen, doch der Ausdruck seines Gesichts war unverändert.
Von seiner Aufmachung her ähnelte er allerdings in nichts dem pickeligen, in seiner Arbeiterkluft fast ertrinkenden Jüngling von früher. Heute trug er ein auf Passform gearbeitetes, pelzverbrämtes Wams zu Beinkleidern aus feiner Wolle. Seine wadenhohen Schnürstiefel saßen ebenso perfekt wie sein sorgfältig geschlungenes
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