Die Madonna von Murano: Historischer Roman (German Edition)
etwas festzuhalten. Über ihm leuchtete geisterhaft blass der Himmel, verschoben und verzerrt durch die gläserne Schicht des Eises. Schatten ragten über ihm auf, dunkel und gedrungen, und irgendwo in weiter Ferne war das Loch, das er niemals wiederfinden würde.
Seine Finger krampften sich um einen Zipfel wollener Lumpen, und er wurde gewahr, dass er das Mädchen gepackt hatte und es festhielt. Doch er konnte es nicht mehr retten, denn er war selbst dem Tod geweiht.
Dumm von mir, wollte er murmeln, doch als er die Lippen öffnete, drang eisiges Salzwasser in seinen Mund. Er presste es wieder heraus und hielt die Luft an, aber er wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde. Vielleicht sollte er es beschleunigen, um es leichter zu haben. Es war ganz leicht. Er musste nur einatmen, dann wäre es schon vorbei. Einer der Seeleute hatte ihm erzählt, dass es ein schöner Tod sei. Man war sofort von Dunkelheit umfangen, und es hieß, dass es nicht einmal wehtat.
Langsam begann sich Schwärze von den Rändern seines Gesichtskreises auszubreiten, und als seine Sicht anfing, sich zu trüben, schloss er die Augen. Er nahm nichts mehr wahr, keine Kälte, keine Schmerzen. Nur Schwere und Leere.
Ein dumpfer Schlag über ihm brachte ihn dazu, die Augen wieder zu öffnen. Wirre, spinnennetzartige Linien überzogen die Eisfläche in seinem Blickfeld, wurden feiner und undurchsichtiger und rissen mit einem Mal auseinander. Ein großer, blauer Fleck tat sich vor seinen Augen auf.
Ein langer roter Schatten kam von oben, und Lorenzo fühlte sich am Genick gepackt und der Bläue entgegengezerrt, in der Wolken und Sonne miteinander verschwammen.
Das Kind, dachte er. Ich muss das Kind festhalten!
Dann wich die Farbe des Himmels undurchdringlicher Dunkelheit.
»Das Kind ist tot«, sagte der Schwarze.
»Schweigt und tretet zur Seite«, befahl Sanchia. Sie warf einen Blick auf Lorenzo. Er war ausgekühlt und hatte eine üble Verletzung am Bein, aber er atmete. »Wickelt ihn in dicke Kleidung. Bringt ihn rasch in die Nähe eines Feuers und haltet ihn warm. Flößt ihm heiße Getränke ein.« Der Sklave nickte wortlos. Er riss sich das Wams vom Leib und hüllte den Bewusstlosen darin ein. Für eine Hand voll Münzen kaufte er einem Fischer eine zerfledderte Decke ab, die er zusätzlich um seinen Herrn wickelte. Anschließend hob er den schlaffen, triefenden Körper auf, als wöge er nichts. Mit wiegenden Schritten trug er seine Last über das Eis davon.
Sanchia kümmerte sich um das Kind. Es lag flach und reglos auf dem Rücken, die Haut so weiß wie die Eisfläche unter ihm. Kein Atemzug bewegte die schmale Brust, an der sich unter der klatschnassen Kleidung alle Rippen abzeichneten.
Eine Menschenmenge hatte sich um sie herum versammelt. Einige Leute unterhielten sich murmelnd, doch die meisten waren im Angesicht des Todes verstummt. Hatten kurz vorher noch Schreck und Sensationsgier die Atmosphäre aufgeheizt, so herrschte jetzt beklommene Stille, nur hier und da unterbrochen durch ein Schluchzen aus der Gruppe der Kinder.
Sanchia drehte das kleine Mädchen auf den Bauch, fasste es mit beiden Händen an den Füßen und hob es an. Es mochte vielleicht drei oder vier Jahre alt sein, aber es war nicht so leicht, wie sie gedacht hatte. Sie bekam es nicht richtig hoch.
»Helft mir«, sagte sie zu dem nächststehenden Mann. Es war Alfonso, der erschrocken die Hände hob und zwei Schritte zurückwich. »Nicht bei Euren Hexereien«, sagte er.
Eleonora trat neben sie und fasste ohne Umschweife mit an. Gemeinsam hoben sie das Kind an den Füßen hoch.
»Schütteln«, sagte Sanchia.
Sie schüttelten das Kind, so gut es eben ging. Das Wasser lief der Kleinen in Strömen aus Mund und Nase.
»Kannst du sie einen Augenblick allein halten?«, rief Sanchia. Sie schlug dem Kind mit der flachen Hand mehrmals auf Brust und Rücken, was weitere Wasserschwälle hervorbrachte.
Nach dem letzten Sturzbach folgte ein stoßartiges Husten und dann ein keuchender, lang gezogener Atemzug.
Von allen Seiten ertönten teils erschrockene, teils begeisterte Ausrufe. Der Schwarze war unweit der Riva stehen geblieben und hatte sich umgewandt. Ein unergründlicher Ausdruck stand auf seinem stoischen Gesicht.
Einige Menschen drängten näher heran, während andere sich abergläubisch bekreuzigten und zurückwichen. Sanchia überließ es anderen Helfern, sich weiter um das Kind zu kümmern. Es war besser, wenn sie so schnell wie möglich verschwand. Wenn sie
Weitere Kostenlose Bücher