Die Mächte des Feuers
Kaskade. Heiße Dampfwolken stoben in die Höhe und wurden von der Wucht des Drachenatems genau gegen Havock's Hundred getrieben. Gegen diese Art von Angriff halfen weder die Schilde noch die Rüstungen. Der wallende Dampf dünstete die Männer innerhalb von Sekunden. Er tötete oder verletzte sie schrecklich, sodass an Gegenwehr nicht mehr zu denken war.
»Ramachander«, stöhnte Leida. Wegen des weißen Brodems konnte sie nicht erkennen, was um den Teich herum vor sich ging. Der Wasserfall war verstummt. Dafür erklangen die Schreie der Verwundeten, und es roch widerlich nach gebrühter Haut und versengten Haaren. Sie würde den Geruch niemals vergessen können.
Sie packte die Harpune und rannte wie von Sinnen in den warmen Nebel, unentwegt den Namen ihres Bruders rufend. Nach einigen Schritten stolperte sie über die ersten Toten, die mit geplatzter Haut und aufgedunsenen Körpern im Gras oder übereinander lagen. Sie fiel und langte in feuchtheiße Erde, stemmte sich in die Höhe und irrte weiter umher. »Ramachander?«
Ein gewaltiger Schemen schritt knapp an ihr vorüber, sie spürte den Windhauch, hörte Fressgeräusche und das Brechen von Knochen. Der Fünfender stillte seinen Hunger, ohne sich um sie zu kümmern.
»Gut gemacht«, vernahm sie die Stimme einer Frau, die sanft und beschwichtigend sprach. »Das Officium wird gern von der Vernichtung der Hundred hören. Das hast du gut gemacht.«
Der Drache gab ein merkwürdiges Geräusch von sich, das Schnurren und Fauchen in sich vereinte.
Leida hob die Harpune und starrte in den Dunst. Sie begriff, dass sie in eine gut vorbereitete Falle gegangen waren, die mehr als nur der einfache Hinterhalt eines heimtückischen Drachen gewesen war. Sie wusste, was sich hinter dem Kürzel Officium verbarg.
»Wir werden gehen«, sagte die Frau, die durch den Nebel hindurch sichtbar wurde. Sie stand keine zwanzig Meter von der Drachenjägerin entfernt, und hinter ihr wurden die Umrisse des Fünfenders sichtbar, der lammfromm vor ihr saß und sie mit gereckten Hälsen aufmerksam betrachtete.
Die Szene wirkte auf Leida wie ein Scherenschnitt. Sie kauerte sich an den Boden und robbte näher.
Die Frau hob den Arm. »Also, ich…«
Eines der Häupter schnellte nach unten und verschlang den Oberkörper mit einem kräftigen Biss. Der Unterleib blieb mehrere Sekunden stehen, bis ein zweiter Drachenkopf herabstieß und sich den frischen Happen nicht entgehen ließ. Dann breitete der Drache seine Schwingen aus und beförderte sich mit kräftigen Schlägen in die Luft. Es war seine Art, sich für einen gelungenen Verrat zu bedanken.
Der Wind, den seine Flügelschläge verursachten, wehte den stinkenden, feuchten Dampf davon und zeigte Leida das Schlachtfeld.
Der Teich existierte bis auf einen schlammigen Grund nicht mehr. Wo einst der Wasserfall herabgesprudelt war, bestand der Fels aus einer glasigen, noch glühenden Wand, die den Auslauf versiegelt hatte. Rund um das Loch lagen große Brandflecken, in denen sich Überreste von Schildern und Harpunen befanden. Menschliche Gebeine hatten dem schwarzen Feuer nicht standgehalten und waren zu Asche vergangen. Etwas weiter weg war der Boden übersät mit den Toten und Verletzten von Havock's Hundred, die Opfer des heißen Brodems geworden waren.
»Ramachander!«, schrie Leida. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie rannte dorthin, wo die Erde lediglich aus schwarzer und grauer, loser Schlacke bestand.
Weinend kniete sie nieder und wühlte im Erdreich, bis sie das Armband von Ramachander in die Finger bekam. Es bestand aus geschnitztem Drachenbein und hatte das Feuer – von einigen Brandspuren abgesehen – unbeschadet überstanden. Leida nahm es in beide Hände und krümmte sich vor Trauer. Tränen fielen auf ihre Finger und in die Schlacke. Sie küsste es mehrmals, ehe sie sich erhob und zurück zu Calton Hill torkelte. Ihre Bewegungen glichen der einer Schlafwandlerin, die Augen blickten starr geradeaus. Sie nahm nichts mehr richtig wahr, sah nur das brennende Edinburgh unter sich und spürte den Armreif in ihren Händen. Mehr war ihr nicht von Ramachander geblieben. Sie bemerkte weder, dass die Harpuniere ihr entgegenliefen, noch dass sich ein blutüberströmter Agent Mandrake an ihre Seite begeben hatte, der sie sicher durch die Crags geleitete.
20. Januar 1925, Edinburgh, Provinz Schottland, Königreich Großbritannien
Onslow Skelton starrte auf das Dutzend Koffer, das in der Lobby des Royal Mile auf sie
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