Die Mächte des Feuers
ihren Füßen erklangen merkwürdige Geräusche, als kehre jemand mit tausend Besen den Rumpf der Staaken ab. Unter dem Glasausleger flogen die Wipfel von jungen Birken entlang, die sich im Luftzug bogen und wiegten. Das Flugzeug wurde abrupt gebremst, Silena und Grigorij wurden gegen die Abtrennungswand geschleudert; gleich darauf setzte der Bomber auf.
9. März 1925, Kiew, Zarenreich Russland
»Sie kommt wieder zu sich. Ich habe gesehen, wie ihre Lider sich bewegt haben.«
Silena hörte die dunkle Stimme und wusste genau, dass Grigorij rechts neben ihr stand.
»Es ist möglich, dass sie träumt, Fürst«, erwiderte eine Frau, deren Stimme ihr fremd vorkam. »Oder aber, dass sie nie mehr erwacht. Es sieht nach einer üblen Kopfwunde aus, und seit dem Absturz sind einige Tage verstrichen.«
»Ich…«, krächzte Silena und schluckte trocken. So sehr sie ihren Lidern befahl, sich zu heben, sie reagierten zunächst nicht.
»Hat sie etwas gesagt?« Leder knarrte, Parfüm wehte ihr entgegen. Sie sah durch den Spalt einen Schatten, der sich über sie beugte.
»Ich bin mir nicht sicher.« Grigorij hörte sich verzweifelt an. »Dabei benötigen wir sie so dringend.«
»Eigentlich nicht.« Die Frau klang abwertend und kühl. »Meine Flieger sind ebenso gut wie die des Officiums, wie Sie bei der Rettung des Bombers gesehen haben. Von mir aus kann sie hier liegen und sich ausruhen, wenn wir in zwei Tagen ausrücken und ihre Arbeit erledigen.« Sie lachte düster. »Wer hätte das gedacht. Dass das Schicksal der Welt von Drachenjägern entschieden wird und nur der Abschaum des Officiums den Angriff der Drachen überlebt hat.«
»Mit Verlaub, aber ich habe nicht gesehen, dass Ihre Piloten den Drachen erledigt haben. Sie haben nicht einmal den Versuch unternommen, die Lanzen einzusetzen.«
»Wir sind nicht so wahnsinnig, Fürst. Wir haben andere Mittel. Die Idee mit den Luftschiffpfeilen war schon in Ordnung. Da hatte die Großmeisterin mal einen guten Einfall.« Leder knarrte, die Frau richtete sich auf. »Wie gesagt, Fürst: Ich brauche sie nicht, und es wird mir eine Freude sein, Ihnen zu zeigen, dass ich sehr gute Flieger habe, die dem schlafenden Schönchen hier das Benzin abgraben können.«
»Zur Hölle mit Ihnen, Havock!« Jetzt schnellten Silenas Lider in die Höhe, denn sie hatte die Stimme zusammen mit den Behauptungen endlich einordnen können. Vor ihr stand die blonde Drachenjägerin mit gekreuzten Armen und grinste sie an; die entstellte Gesichtshälfte war wie immer hinter vielen Strähnen verborgen. Und im gleichen Augenblick wusste sie, dass ihre Rivalin das alles nur gesagt hatte, um sie aus dem Schlaf zu wecken.
Leida lachte und wandte sich an Grigorij. »Sehen Sie, Fürst?«
Er wirkte erleichtert. »Ich hätte es nicht für möglich gehalten, und die tausend Mark zahle ich Ihnen gern, Frau Havock.«
»Misses Havock.«
»Zahlen?« Silena betastete den Kopf und fühlte einen dicken Mullverband. Wie auf Knopfdruck schoss ihr der Schmerz durch den Schädel, gerade so als tobe sich eine Gewitterwolke darin aus und wolle das Gehirn mit kleinen elektrischen Entladungen quälen.
»Eine Wette, nichts weiter. Er meinte, dass es mir nicht gelingen würde, Sie ins Reich der Lebenden zurückzuholen.« Sie bleckte die Zähne. »So leicht habe ich noch niemals Geld verdient.«
Auf Grigorijs Wink eilte eine Krankenschwester herbei, half Silena beim Aufrichten und reichte ihr ein Glas Wasser. Nachdem sie es geleert hatte, fühlte sie sich schon eher in der Lage zu sprechen. »Was ist…«
»Du bist im Fadorin-Krankenhaus in Kiew. Die Staaken ist beim Versuch einer Notlandung auseinander gebrochen, aber alle haben es mehr oder weniger schwer verletzt überstanden«, erklärte Grigorij. »Misses Havock ist mit der Cadmos aufgetaucht und hat uns gegen den Angriff des zweiten Drachen verteidigt.«
»Sie und Ihre Leute waren es? Sie haben die Cadmos aus Stuttgart gestohlen?« Silena fühlte trotz ihrer Schwäche und der Kopfschmerzen den dringenden Wunsch, von ihrem Lager aufzuspringen und die Frau zu schlagen.
Leida senkte angriffslustig den Kopf. »Wie Sie bemerken, Fürst, wird sie immer lebhafter.«
»Jetzt kommen zu den illegalen Drachenjagden auch noch Raub und Mord hinzu, Havock.« Silena sah die brennende Generatorenhalle vor sich, die Schießerei und die vielen Verwundeten und Toten, die nach dem Überfall auf die Luftschiffhalle des Officiums zurückgeblieben waren. »Das bricht Ihnen das Genick.
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