Die Mächte des Feuers
Überraschung und Schmerz auf. Die Klinge drang tief in ihn hinein.
Er wich zurück und schlug gleichzeitig mit dem Schwanz nach dem Angreifer. Aber der Hieb peitschte lediglich Schnee auf und ließ eine glitzernde Wolke entstehen. Vouivre fauchte wütend und kroch rückwärts, um den Hain zu verlassen. Die Bäume boten seinem Feind zu viele Deckungsmöglichkeiten.
Der rieselnde Schnee warnte den Wurmdrachen. Blitzschnell zog er den Kopf zur Seite und sah die Spitze des Spießes knapp an seinem Karfunkelauge vorbeischießen. Die Gestalt saß nun über ihm in den Ästen und hatte ihm aufgelauert.
Vouivre stieß einen Strahl aus stahlblauem Feuer gegen die Baumkrone und verbrannte die Äste und Zweige zu Asche.
Wieder erhielt er einen Stich, dieses Mal in die Körpermitte und knapp am Herzen vorbei, mitten in die Innereien. Diese Art von Schmerz hatte er schon sehr, sehr lange nicht mehr fühlen müssen.
Vouivre schnappte nach der Gestalt, die den Spieß aus der Wunde zog, aber die Zähne stießen ins Leere. Mit einer nicht nachvollziehbaren Bewegung hatte sie sich aus seiner Reichweite entfernt und die Waffe mitgerissen.
Heißes, schwarzes Drachenblut ergoss sich umgeben von einer Dampfwolke aus dem Schnitt zwischen den Schuppen und sprühte in das Weiß, das sofort schmolz.
Vor ihrer nächsten Attacke wurde die Gestalt von dem Wurmdrachen bemerkt. Sein Schwanz stieß nach vorn, und Vouivre biss gleichzeitig nach ihr.
Wieder gingen beide Angriffe fehl.
Mit einer unglaublichen Sprungkraft drückte sie sich ab, zog die Beine an und reckte den Spieß mit der Klinge nach unten, zielte auf den sich nähernden Drachenkopf. Vouivres beide Herzen schlugen schneller als gewöhnlich. Selbst seine unglaublichen Raubtierinstinkte schienen gegen diesen Angreifer zu langsam. Die Muskeln spannten sich, der Hals zog sich zurück.
Die Spitze ritzte die silberndiamantenen Schuppen, sprengte etliche davon ab. Beinahe wäre sie ihm unterhalb des Karfunkels in den Schädel gedrungen.
Vouivre grollte. Die Wunden schmerzten, aber weit mehr brannte das Wissen, einem ebenbürtigen Gegner gegenüberzustehen, der nicht einmal ein Drache war. Er wandte sich um und jagte der Gestalt einen zweiten Feuerstoß nach, doch wieder war sie bereits verschwunden. Das konnte kein Mensch sein!
Vouivre kroch hastig rückwärts und spie unentwegt Flammen, um den Walnussbaumwald mit allem, was sich darin befand, in Brand zu setzen. Seine Bewegungen wurden immer schneller, er wollte entkommen. Hinter jedem Stamm sah er nun die Gestalt lauern, er schleuderte die vernichtenden Lohen ohne Unterlass, während seine Herzen klopften und stampften. Man hatte ihn zur Beute degradiert, und dieses Gefühl war erniedrigend.
Furcht war erniedrigend!
Endlich hatte Vouivre den Wald hinter sich gelassen und befand sich auf einer verschneiten Ebene. Selten zuvor war er derart glücklich gewesen, sich auf einer überschaubaren, deckungslosen Fläche zu befinden.
Das Feuer hatte auf den gesamten Hain übergegriffen, Rauch und Flammen stiegen weithin sichtbar in den Winterhimmel und verkündeten den umliegenden Dörfern, dass es im nächsten Jahr weder Trüffeln noch Walnüsse geben würde, von deren Handel sie lebten.
Vouivre kroch weiter rückwärts und wartete eine ganze Weile, bis er sich sicher war, dass die Gestalt den Wald auf seiner Seite nicht verlassen hatte. Es war kein Drachentöter gewesen, die Leute des Officiums legten bekanntlich Wert darauf, dass man sie als solche erkannte. Von einem so schnellen, einzelnen Drachenjäger hatte er zumindest in Frankreich noch nichts gehört. Das besorgte ihn.
Die Wunden pochten und klopften, es würde dauern, bis sie vollständig verheilt waren. Vouivre betrachtete den Stich, der das Herz verfehlt hatte. Seltsamer und unerwarteter war er dem drohenden Tod noch niemals begegnet. Er rechnete die Attacke Iffnar und Grendelson zu. Sie wussten von seinen Plänen und der Absprache mit Ddraig, gewiss hatten sie ihm den Besucher auf den Hals gehetzt.
Fauchend rutschte er über den Schnee und begab sich auf den Rückweg in die sicheren Westalpen. Ich werde mich bei euch beiden revanchieren, versprach er stumm. Bis er das Gebirge erreicht hatte, sah er sich immer wieder in der menschenleeren Landschaft um, ob die Gestalt mit dem merkwürdigen Namen, dieser lästigen Waffe und der Geschwindigkeit eines Mungos ihm nicht doch folgte.
Vouivre bemerkte nichts, aber selbst das beruhigte ihn nicht mehr.
14. Januar 1925,
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