Die Mächte des Feuers
Hauptstadt Stuttgart, Königreich Württemberg, Deutsches Kaiserreich
Silena drückte das Rennflugzeug, eine umgebaute Macchi, im Tiefflug über die Dächer, die unter ihr mit mehr als zweihundert Stundenkilometern vorbeigeschossen. Haarscharf ging es über die Kamine des Stuttgarter Stadtschlosses hinweg. Sie zog die spitze Nase etwas hoch und beschleunigte.
Der Mercedes-Motor röhrte auf und gab seine achthundert Pferdestärken frei, brachte die tiefschwarze Macchi auf mehr als vierhundert Sachen, mit denen sich die Drachentöterin Bad Cannstatt näherte. Die Italiener hatten das knapp sieben Meter lange Flugzeug in ihrer Version nicht für lange Strecken ausgelegt, aber durch kleinere Umbauten und eine bessere Motorkühlung hatte sie sich in das schnellste Transportmittel ihrer Zeit verwandelt.
Wenn auch nur für eine Person.
Der Wind pfiff in den Streben und Drähten, und obwohl Silena hinter der bruchsicheren Windschutzscheibe ein wenig abgeschirmt war sowie einen zweifach gefütterten Ledermantel, Helm, Handschuhe und dicke Stiefel trug, machte ihr die Kälte zu schaffen. Ohne die Fliegerbrille wären ihre Augäpfel vermutlich eingefroren; dennoch würde sie um nichts in der Welt große Strecken mit der langsamen Eisenbahn oder dem Auto zurücklegen.
Die Einsamkeit des Fluges erlaubte ihr, in Ruhe nachzudenken.
Die Beerdigung ihrer Brüder und der Großmeisterin Martha war furchtbar gewesen. Ihre Schwägerinnen hatten sich beim Weinen gegenseitig angestachelt, während der Erzbischof Kattla selbst die Zeremonie auf dem Münchner Waldfriedhof übernommen hatte.
Dort lagen alle gefallenen Nachkommen der Drachenheiligen der letzten zweihundert Jahre. Gewaltige Mausoleen erhoben sich aus dem Boden, versehen mit Statuen und Wandbildern, welche die Geschichte des jeweiligen Ahnen erzählten, und darin warteten die Grabnischen auf die sterblichen Überreste, die mitunter nichts als Asche oder Fetzen waren. Es ging über Treppen viele Meter nach unten, bevor der Boden mit der frischesten Kammer erreicht wurde. Nirgends in der Welt sah ein Grab eindrucksvoller und atemberaubender aus als in München.
Sie erinnerte sich an eine Beerdigung im Sommer, als Großmeister Tim aus der Linie Timoteus zu Grabe getragen worden war. Es hatte nach Tannen, warmem Stein und Weihrauch gerochen, ein Tag zum Sterben schön. Dieses Winterwetter hasste sie.
Silena hatte sich nicht lange aufgehalten, die Suche nach dem Drachen, der ihrer Meinung nach den Tod aller verschuldet hatte, blieb erfolglos. Zwei kleinere Überwachungszeppeline schwebten seitdem über dem Münchner Himmel und hielten Ausschau nach einer verdächtigen Bewegung.
Ihre Entscheidung, was den Verbleib in der Staffel anging, war gefallen.
Es dauerte nicht lange, und Silena erkannte die vier gewaltigen Hallen, in denen die Ingenieure Ersatzteile formten, aber auch nach den neuesten Erkenntnissen der Luftfahrt neue Modelle für die Staffel Saint George ersannen. Eines davon würde sie heute abholen.
Sie verringerte die Geschwindigkeit der Macchi und setzte zum Landeanflug auf der gewalzten Piste an. Die Maschine gehorchte den Befehlen der Fußpedale und Steuerknüppelbewegungen wie eine zickige Diva. Es bedurfte viel Fingerspitzengefühls.
Eine Schneewolke aufwirbelnd, setzte sie auf den gefrorenen Boden auf und nahm das Gas weg. Der V12-Motor rutschte in den Leerlauf; die verbliebene Geschwindigkeit reichte aus, um das Rennflugzeug zum ersten der vier Hangars zu steuern und es ausrollen zu lassen.
Das Tor öffnete sich, Männer in den Uniformen der Staffel eilten in die Kälte, um die Macchi mitsamt der Passagierin in die Halle zu schieben.
Silena stand auf und zog sich Brille und Lederhelm ab. Darunter lagen eine gefütterte Kappe und ein Gesichtsstrumpf aus dicker Wolle. Mit jeder Lage, die sie von sich warf, kam mehr und mehr die Frau zum Vorschein, wie man sie kannte und schätzte.
Ihr schlug der geliebte Geruch von Öl und Metall entgegen, dazu mengten sich Benzin und Schmiermittel; überall wurde an Flugzeugen gearbeitet, manche davon waren Prototypen, andere beschädigte oder aufgekaufte Maschinen, die von den Ingenieuren für die Staffel umgebaut wurden.
Silena atmete tief ein. Die Geräusche, die Gerüche, der Anblick – das war ihre Welt, die sie liebte und von der sie sich schwer trennen konnte. Wollte.
»Willkommen, Großmeisterin!« Vor der Macchi stand ein untersetzter Mann mit einem braunen Schnurrbart, dessen Enden mit Wachs
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