Die Mächte des Feuers
Stolz und Freude standen im hässlichen Antlitz.
Sie musste nicht auf das kleine Bronzeschild am Sockel schauen, auf dem MELCHIOR DER ÄLTERE (1375-1451): BELLUM BESTIAE (1432) zu lesen stand. Das Standbild kannte sie seit ihrer Kindheit, und früher hatte sie sogar geglaubt, es handele sich bei dem Gargoyle um den heiligen Georg, der Drachen tötete, bis ihr Vater sie deswegen ausgeschimpft hatte. Von dem Tag an hieß die Statue wegen der langen, krummen Nase für sie Cyrano, wie der Mann aus ihrem Bilderbuch.
Lustigerweise war Silena die Einzige, die an der Statue Gefallen fand. Es gab Angestellte, die es vermieden, in Cyranos Gesicht zu blicken, weil sie sich tatsächlich unwohl dabei fühlten. Melchior der Ältere hatte ganze Arbeit geleistet und den steinernen Zügen etwas Düsteres, Gefährliches gegeben.
Silena berührte die kalte, glatte Schulter wie die eines alten Freundes und lief weiter. Sie sparte sich den Weg zum Erzbischof, sondern besuchte gleich die Abteilung für Unbestätigte Drachengeschic h ten/- exemplare und Kuriositäten.
Schwungvoll öffnete sie die Tür und blieb auf der Schwelle stehen. »Hier, etwas zum Abheften«, rief sie und warf die Bilder mit Effet auf den ersten Schreibtisch, an dem eine Frau erschrocken zusammenzuckte, während Silena den Eingang bereits wieder schloss und durch den Korridor ging. Es wurde Zeit, dass sie aufstieg und die Saint flog, um sich noch vertrauter mit ihr zu machen.
Sie eilte an Cyrano vorbei hinaus durch den leichten Nieselregen, setzte sich in den wartenden Phänomen und wollte Sepp eben den Befehl zum Losfahren geben – da kam die Frau aus der Abteilung für Unbestätigte Drachengeschichten/- exemplare und Kuriositäten durchs Tor gerannt, wedelte mit den Armen und hielt ein Blatt in der Linken.
»Warten Sie«, bat Silena den Fahrer und stieg aus. »Was gibt es?«
»Großmeisterin, schauen Sie!« Die Frau reichte ihr eine Fotografie.
Silena nahm sie und betrachtete die stark verwischte Aufnahme. Mit viel Vorstellungskraft war ein schwarzer Flugdrache zu erkennen, der über eine Reihe von Häusern flog; die fünf Köpfe reckten sich schnurgerade nach vorn, sodass er wie ein übergroßer Pfeil aussah. Die Drachentöterin schluckte, wischte den Regenfilm von dem Foto. »Wann wurde sie gemacht?«
»Gestern, Großmeisterin. Gegen 15.30 Uhr über den Dächern von Heathrow.«
»Gestern? In Heathrow? Wieso haben Sie das Foto?«
»Ich soll untersuchen, ob es eine Fälschung ist oder nicht. Weil die Umrisse extrem verschwommen sind, habe ich anfangs angenommen, dass der Fotograf mit einer Doppelbelichtung und einem kleinen Drachenmodell gearbeitet hat. Wie damals bei den Bildern von den fliegenden Scheiben am Himmel, die sich als bloße Untertassen herausstellten. Solche Aufnahmen würden ihm die Zeitungen aus der Hand reißen… Aber als Sie mir eben die Zeichnungen brachten, musste ich Ihnen dieses Foto sofort zeigen, Großmeisterin.« Sie harrte tapfer in dem kalten Regen aus, auch wenn ihre leichte grüne Bluse rasch Wasser zog und die kunstvoll gedrehten blonden Locken bereits schlaff auf die Schultern hingen.
»Weiß der Erzbischof schon Bescheid?«
»Nein. Sie sind die Erste, die…«
»Danke.« Silena stieg in das Automobil und klappte die Scheibe nach unten. »Ich sage es ihm selbst und rufe von London aus an«, rief sie und gab dem Fahrer das Zeichen, loszufahren. »Mal schauen, ob der Drache eine gute Fälschung ist oder nicht.«
So schnell es ging, pflügte der Phänomen durch den Schneematsch und den Münchner Verkehr, einem Gewirr von Wagen, Droschken und Straßenbahnen, bis Silena den Fahrer anwies, die Sirene einzusetzen. Es handelte sich wirklich um einen Notfall. Plötzlich war aus den Zeichnungen eines Verwirrten Realität geworden. Wie viel von dem, was Zadornov ihr gesagt hatte, würde sich noch als wahr erweisen?
Sie spürte, dass ihr Herz schneller schlug, und ärgerte sich jetzt schon, dass die Cadmos gestohlen war. Die Verlegung des Fliegenden Zirkus nach England würde lange dauern – die Fahrt mit der Eisenbahn, die Fähre über den Kanal, das zeitraubende Umladen…
Silena massierte nervös ihre Finger, dann klopfte sie gegen die Scheibe. »Schneller, Sepp«, sagte sie ungeduldig. »Wir brauchen dieses andere Luftschiff, auch wenn es kleiner ist.«
Gehorsam folgte der Phänomen den neuen Anweisungen des Fahrers. In Höchstgeschwindigkeit ging es von München raus zum Flugfeld des Officiums. Die einhundert
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