Die Maechtigen
aber ich habe auch nicht damit gerechnet, dass es sich als Country-Song entpuppt.«
»Schon. Trotzdem ist das noch besser, als feststellen zu müssen, dass dein Leben wie Fahrstuhlmusik ist.«
»Manche Menschen mögen Fahrstuhlmusik«, erwidert sie.
Ich schaue zu ihr hinüber. Sie gibt nicht klein bei und hält unerschrocken meinem Blick stand. In diesem Moment weiß ich wieder, warum die Begegnung mich aus dem Winterschlaf gerüttelt hat. Obwohl sie sehr genau weiß, was Angst ist, fürchtet sie sich doch vor nichts und niemanden. Jedenfalls nicht vor mir.
Als sie mich so anschaut, möchte ich sie wieder küssen. Ich möchte sie so küssen wie gestern Nacht. Und mir ist klar, dass dies hier meine Chance ist, eine echte zweite Chance in jeder Hinsicht. Einer dieser goldenen Momente, in dem die Erde aufhört, sich zu drehen, und die Wolken weggeblasen werden. Ich habe die Chance, die richtigen Worte zu sagen und zu beweisen, dass ich mein Leben wirklich ändern kann.
»Also … deine … Großmutter …«, stammle ich. »Ist … ist ihr Krebs sehr schlimm?«
»Ja, es sieht nicht gut aus«, sagt Clementine, als sie durch den Flur geht. »Aber glaub mir, Nan hat achtzehn Leben. Sie wird uns alle überleben und auf unseren Gräbern tanzen.«
Ich verfluche mich selbst und überlege, ob ich mir die Zunge herausschneiden soll. Wie geht’s dem Krebs deiner Großmutter? Mehr fällt mir nicht ein? Genauso gut hätte ich damit herausplatzen können, dass ich von ihrer Schwangerschaft weiß. Dann wäre die Situation wenigstens so richtig furchtbar geworden.
»Beecher, darf ich dich etwas fragen?« Clementine drückt auf den Rufknopf des Fahrstuhls. »Warum bist du wirklich mitgekommen?«
»Was?«
»Hierher. Warum ausgerechnet hierher?« Sie deutet nach oben. Drei Stockwerke hoch, um genau zu sein. Wo ihr Vater lebt. »Du hast doch gesehen, wie verrückt er ist. Warum kommst du mit zu ihm?«
»Das habe ich dir doch schon gesagt. Wir haben mit so vielen Leuten gesprochen, aber er ist der Einzige, der auf die Sache mit der unsichtbaren Tinte gekommen ist. Ohne ihn würden wir immer noch vergeblich in dem Wörterbuch herumblättern.«
»Das stimmt nicht. Er hat nichts aufgedeckt. Dieser Typ im Archiv … Von der Konservierung …«
»Diamond.«
»Genau. Diamond«, sagt sie. »Der hat es herausbekommen.«
»Aber erst, nachdem Nico darauf hingewiesen hat, dass es so etwas überhaupt gibt. Und ja, Nico ist verrückt, aber er ist der Einzige, der uns einen Hinweis gegeben hat, der uns tatsächlich weitergebracht hat.«
»Dann hat jetzt also Totte unrecht? Also wirklich, Beecher. Ihr habt ein Dutzend Leute im Archiv, die sich auf die Zeit der Revolutionskriege spezialisiert haben. Ihr habt Diamond und seinen ganzen Sachverstand über die Heimlichtuerei der Gründerväter. Statt zu den ausgebildeten Fachleuten zu gehen, wendest du dich an das Mädchen, das du in der Highschool geküsst hast, und ihren paranoiden Vater? Du hättest du dir hier jederzeit Zugang verschaffen können. Warum also nimmst du mich mit?«
Ich folge ihr in den Fahrstuhl und drücke auf den Knopf für den dritten Stock. Ich schaue sie an und bin jetzt vollkommen konfus. »Warum sollte ich dich nicht mitnehmen? Du warst mit uns in dem Raum, als wir das Wörterbuch gefunden haben. Dein Gesicht ist ebenfalls auf dem Videoband, genau wie meins. Und ich kann dir sagen, dass Khazei sehr genau weiß, wer du bist, Clementine. Glaubst du wirklich, ich will nur mich selbst beschützen? Das hier ist unser Problem. Und wenn du glaubst, dass ich das nicht von Anfang an gedacht habe, kennst du mich überhaupt nicht. Außerdem … hast du nicht gemerkt, dass ich dich mag?«
Die Fahrstuhltüren schließen sich, und Clementine tritt einen halben Schritt zurück, sie sagt kein Wort. Ihr Vater existierte nicht, ihre Mutter ist früh gestorben und ihre Großmutter ist eine böse Frau … Clementine war ihr ganzes Leben lang allein. Sie weiß mit dem Wort zusammen nichts anzufangen.
Aber ich habe das Gefühl, es gefällt ihr.
»Übrigens«, füge ich hinzu, als wir Schulter an Schulter und ganz dicht nebeneinanderstehen, »manchen Leuten gefällt Country-Musik.«
Zu meiner Überraschung errötet Clementine. Der Fahrstuhl ruckt an, und sie muss sich festhalten. »Das hättest du vor zwei Minuten sagen sollen, du Genie. Als ich gesagt habe, dass ich Fahrstuhlmusik mag.«
»Weiß ich. Ich hab die Panik bekommen. Halte es mir einfach zugute, dass ich es schließlich
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