Die Maechtigen
eine aus Stein gemeißelte Eule mit ausgebreiteten Flügeln aufzufliegen scheint.
Kein Zweifel, der Oak-Hill-Friedhof ist die letzte Ruhestätte für Leute mit Geld. Falls Nico jedoch recht hat, ist er auch eine Stätte für Leute mit etwas ganz anderem als nur Geld.
»Beecher, sei nicht dumm!«, ruft Clementine. »Renn nicht einfach los, ohne zu wissen, wohin du gehst.«
Sie hat zweifellos recht. Nur weiß ich dank des GPS in meinem Handy sehr genau, wohin ich gehe.
180 Meter Nordwest, steht dort in leuchtenden grünen Buchstaben. Daneben zeigt mir sogar ein roter digitaler Pfeil genau die Richtung an. Und gerade als ich zur Kontrolle auf das Handy schaue, fängt es in meiner Hand an zu vibrieren.
Der Anrufer ist der Archivar, der, wie ich weiß, zum derzeitigen Culperring gehört. Dallas.
»Beecher, das war’s … Sie haben das Rätsel geknackt!«, schreit Dallas, bevor ich auch nur dazu komme, ihn zu begrüßen.
Ich weiß, wovon er spricht. Die Notiz. Die unsichtbare Tinte. Sechsundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit, um ein Geheimnis zu bewahren. Antworten Sie: NC 38. 548. 19 oder WU 773 427. Von Anfang an haben wir gewusst, dass dies nicht die Signatur eines Buches ist. Also haben wir immer darüber nachgedacht: » Was bedeutet NC? Und was bedeutet WU?«
Bis Nico einen anderen alten Trick von George Washington erwähnt hat.
»Nico hat es geknackt«, erinnere ich ihn.
»Wichtig ist nur, dass er recht hatte. Einer unserer Leute, der zufällig am Obersten Gerichtshof arbeitet, hat Nicos Geschichte überprüft. Diese langen, verzierten Buchstaben, die anscheinend nichts bedeuteten, waren eine Eigenart von Washingtons Handschrift … Es sei denn, man liest nur den ersten oder dritten oder welchen Buchstaben eines jeden Wortes auch immer. Dann ist es genauso, wie er gesagt hat: Aus NC und WU werden …«
»N und W. Nord und West«, wiederhole ich Nicos Worte, die ich Dallas vor einer halben Stunde übermittelt habe, als ich ihm sagte, dass wir uns hier treffen müssten.
Ich gehe den zementierten Weg hoch und verstehe jetzt, warum niemand Nico beim Wort nehmen will. Doch obwohl ich zugeben muss, dass es sehr eigenartig war, faszinierte es mich, ihn zu beobachten. Sobald Nico das N und das W herausgefunden hatte, spielte er mit den Dezimalstellen herum, und schon wurde die Nachricht verständlicher: Antworten Sie: NC 38. 548. 19 oder WU 773 427 – es war das System der Breiten- und Längengrade, das Ptolemäus vor beinahe zweitausend Jahren im ersten Weltatlas benutzt hatte. Deswegen sind wir so lange nicht darauf gekommen. Wir haben nach Buchsignaturen gesucht. Es waren aber Koordinaten für Landkarten. »Wo stecken Sie überhaupt?«, frage ich Dallas.
»Ich habe Oak Hill gerade erreicht«, antwortet Dallas. »Bin durch das Eingangstor. Wo sind Sie?«
»Ich weiß nicht genau … da, wo all die Grabsteine und die Toten sind. Den Hügel auf der linken Seite hoch. Dort ist …« Ich suche nach einem Anhaltspunkt. »Hier oben ist eine große, freie Fläche, auf der eine riesige Steinstatue steht … Sieht aus wie ein Bauernmädchen, aber das Gesicht ist ganz flach, weil die Nase vom Wetter weggefressen wurde.«
»Warten Sie mal … Ich glaube, ich kann Sie sehen«, meint Dallas. »Ich kann Sie sehen und …« Er unterbricht sich. »Sagen Sie mir bloß nicht, dass Clementine bei Ihnen ist.«
»Hören Sie auf damit. Sie wissen genau, dass ich ohne sie nicht ins Sankt Elizabeth hineingekommen wäre.«
»Und hier? Warum haben Sie Clementine mit hierhergenommen? Wir haben das doch besprochen, Beecher. Ganz gleich, was Sie denken, wir kennen dieses Mädchen doch nicht mal.«
Ich beende das Gespräch. Ich habe diese ständige Auseinandersetzung satt. Totte hat genau das Gleiche gesagt. Aber beide verstehen einfach nicht, dass ich ohne Clementine gar nicht so weit gekommen wäre. Und wie ich ihr schon klargemacht habe … Sie war ebenfalls im SCIF. Ich kann sie nicht einfach zurücklassen.
»Beecher, warten Sie …«, ruft jemand weit hinter uns.
Ich drehe mich um und entdecke Dallas. Er biegt gerade um die Ecke, auf halbem Weg auf dem sich schlängelnden Pfad. Er ist nicht mal fünfzig Meter von uns entfernt und rennt so schnell er kann, um uns einzuholen. Aber er ist nicht annähernd so schnell wie ich.
»Wer ist das denn?« Clementine ist fast panisch.
»Mach dir keine Sorgen, das ist nur Dallas«, antworte ich.
»Warum hast du ihm erzählt, dass wir hierherkommen?«, fragt Clementine. Sie erinnert
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