Die Maechtigen
mich Clementine.
Ich will mich jetzt nicht mit ihr streiten, denn wir drängen uns gerade in das Großraumbüro. Drinnen ist es relativ ruhig, und das Büro sieht aus wie alle anderen auch: ein langer rechtwinkliger Raum mit vielen, durch Stellwände abgeteilten Kabinen und ein paar verglasten, separaten Büros. Aber links von uns ist einiges los; ich höre das Quäken und krachende Knistern von unglaublich vielen Walkie-Talkies, die den Sanitätern und der Security gehören. Und einem kleinen Team von Feuerwehrleuten, die schon ein bisschen früher eingetroffen sind und jetzt in einem kleinen Kreis in der Mitte des Büros knien, wie Kinder, die einen Ameisenhaufen beobachten.
»Sie untersuchen ihn anscheinend noch«, bemerkt Clementine.
Das wäre eine gute Nachricht. Wenn sie noch mit ihm beschäftigt sind, dann …
Aber sie tun nichts, überhaupt nichts. Kaum einer der Leute bewegt sich. Und es pumpt auch keine Herzlungenmaschine.
»Auf drei!«, rufen sie und bereiten sich vor, die Trage anzuheben. »Eins. Zwei …«
Plötzlich hört man ein metallisches Quietschen, weil die Stahlgriffe der Bahre ausgezogen werden und dabei die Bolzen in ihre Fassungen rutschen. Mit einem Ruck ziehen die Feuerwehrleute den schwarzen Klettverschluss zusammen, der um das weiße Tuch herum befestigt ist …
Aber es ist nicht nur ein weißes Tuch … unter dem Tuch liegt … Orlando. Einer der Feuerwehrleute tritt ein Stück zurück und ermöglicht uns einen Blick auf Orlandos Gesicht. Seine Haut ist so trocken wie eine ausgeblichene Wandtafel. Man braucht keine medizinische Ausbildung, um zu erkennen, dass man da einen Toten vor sich hat.
»Beecher, du musst atmen«, flüstert Clementine dicht hinter mir. »Du darfst nicht umkippen.«
»Ich kippe nicht um!«
»Doch, ich sehe es doch.«
»Was soll ich denn tun? Das ist … wir … dieser Mann ist mein Freund …«
Ich recke mich, um über die Menge hinweg Orlandos Profil zu betrachten. Sein Kopf ist zur Seite geneigt, fast in unsere Richtung, die untere rechte Ecke seines Mundes hängt leicht herunter. Genauso hat meine Mutter ausgesehen, als sie nach ihrer Herzoperation diese Komplikationen hatte.
»Gerade noch … wir haben ihn doch eben noch gesehen«, flüstert Clementine.
Ich werfe einen Blick auf Orlandos Augen, sie sind geschlossen und machen einen friedlichen Eindruck. Aber dieser Mundwinkel, der etwas durchhängt …
»Es tut mir so leid«, sagt Clementine betroffen.
Ein stechender Schmerz zuckt durch mein Herz, brennt durch meine Lunge, als bestünden meine Organe aus Glassplittern, die durch meine Brust wirbeln und in meinem Magen landen.
Sag mir bitte, dass dies nichts damit zu tun hat, dass wir zusammen in diesem Raum waren, flehe ich stumm.
»Du hast gehört, was sie gesagt haben«, meint Clementine, als könnte sie meine Gedanken lesen. »Er hatte einen Herzinfarkt … oder einen Schlaganfall.«
Ich versuche es zu glauben. Wirklich. Es gibt schließlich keinen Grund, etwas anderes anzunehmen. Gar keinen Grund. Außer dieses nagendes, schmerzhafte Gefühl in meinem Magen.
»Was hast du?« Sie zischt fast. »Warum soll es keine Herzattacke gewesen sein?«
»Ich sage ja nicht, dass es keine war, aber … Das ist schon ein ziemlich großer Zufall, oder? Ich meine, wie wahrscheinlich ist das, hm? Kurz nachdem wir das Versteck gefunden haben, wird Orlando zufällig …« Ich senke die Stimme, kann es nicht aussprechen. Sie hört es trotzdem. Orlando hat sich durch die Sprechanlage bei der Security gemeldet, hat sich eingetragen. Er ist der Einzige, der als Besucher im SCIF registriert wurde. Wenn also jemand den Raum betreten hat, kurz nachdem wir ihn verlassen haben, und etwas suchte …
O Scheiße!
Ich werfe einen Blick auf meinen zusammengerollten Kittel mit den Kaffeeflecken. Ich habe ihn unter den Arm geklemmt und spüre die abgestoßenen Kanten von dem, was darin versteckt ist.
Das Buch. Natürlich. Diese blöde Buch. Wenn es jemand für den Präsidenten dort hingelegt hat und sie glaubten, Orlando hätte es genommen …
»Beecher, red dir jetzt nichts ein!«, drängt Clementine. »Niemand hätte so schnell herausfinden können dass er auch nur da drin gewesen ist.«
Ich nicke. Sie hat recht. Sie hat vollkommen recht.
Tatsächlich war die einzige Person, die außer uns wusste, dass Orlando dort drin war …
»Was für ein verdammter Alptraum, was?«, fragt eine leise Stimme hinter uns.
Ich springe auf, brennende Galle steigt mir in den Hals.
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