Die Maechtigen
italienischen Straße war noch feucht vom nächtlichen Regen. Der kleine, schlanke Mann, der dort stand, erfreute sich an den Spiegelungen, die dadurch auf der Via Panisperna entstanden. Wie ein völlig anderes Universum, dachte er, als er die umgedrehte Version der Sant’Agata dei Goti aus dem fünften Jahrhundert betrachtete, die ihm jetzt auf magische Weise zu Füßen zu liegen schien.
Er wartete bereits eine ganze Weile an der Seitentür, aber er war nicht beunruhigt. In all der Zeit hatte sie ihn nie versetzt. Und sie würde damit nicht ausgerechnet jetzt anfangen. Nicht bei all dem, was geschehen würde.
»Du siehst nervös aus!«, rief Lenore, als sie um die Ecke bog und über die holprige Straße ging.
»Ich bin nicht nervös«, erwiderte der Mann. »Sondern aufgeregt.«
»Du siehst aber nicht aufgeregt aus. Du siehst nervös aus.«
Der Mann lächelte. Streite nie mit Lenore, die die schöne Kunst des Streitens auf ihrem Weg von Princeton bis ins Weiße Haus perfekt gelernt hatte.
»Wenn ich nicht ein bisschen nervös wäre, müsste ich verrückt sein«, antwortete der Mann lachend.
Er drückte fest gegen die schweren Doppeltüren, trat dann ein und schrak zusammen, als die Scharniere quietschten. Aber das Gefühl, wieder hier zu sein, wirkte sofort auch beruhigend; vor allem dieser Geruch – das feuchte Holz und die Rosenwasserkerzen.
»Der Geruch erinnert dich an deine Mutter, stimmt’s?«, erkundigte sich Lenore.
Der schmächtige Mann ignorierte die Frage und auch den lauten Knall der zuschlagenden Tür und näherte sich sofort dem Ursprung des Duftes, einem antiken Ständer mit weißen Gebetskerzen.
»Sie roch danach, als du ein Kind warst«, fuhr Lenore fort. »Als ihr in Wisconsin in die Kirche gegangen seid.«
Der Mann musste lächeln. Es gab in dieser Welt nichts Unheimlicheres, als jemandem zu vertrauen. Aber es gab auch nichts, das sich mehr lohnte.
»Es sind gute Erinnerungen«, erwiderte er, nahm eine noch nicht angezündete Kerze, hielt sie an die Flamme und flüsterte ein stummes Gebet für seine Mutter. Zwei Jahre früher hätte er bei einem solchen Gebet noch sechzehn Mal genickt, bevor er Amen sagte. Er hätte sich zwei Wimpern ausgerissen und sie so auf seine Hand gelegt, dass sie ein kleines Kreuz bildeten. Aber als er heute zu dem verschachtelten Glasfenster hoch sah … heute ging es Nico Hadrian besser.
Und auch der ehemaligen First Lady Lenore Manning.
Obwohl sie nun seit zwei Jahren tot war.
»Okay, Nico, gehen wir. Du sollst in den Aufenthaltsraum kommen«, sagte der große Pfleger, dessen Atem nach Zwiebeln roch.
Nico blickte über die Schulter durch sein kleines, kahles Zimmer im St.-Elizabeth-Krankenhaus, vorbei an seiner schmalen Pritsche und der lackierten Kommode mit der Bibel und dem Kalender der Washington Redskins. Italien war verschwunden, und es war niemand mehr da bis auf den Pfleger mit dem süßen Zwiebelatem.
»Bitte versprich mir, dass du nicht mehr mit eingebildeten Freunden redest«, sagte der Pfleger. »Wenn du es trotzdem tust, muss ich das melden, Nico.«
Nico lächelte noch freundlicher. Er hatte einmal den Fehler gemacht, ehrlich zu sein. Diesen Fehler würde er niemals wiederholen. »Du weißt doch, dass ich das nicht mehr mache.«
Es stimmte auch, jedenfalls meistens. Als er nach seiner Flucht gefasst wurde und endgültig nach Sankt Elizabeth zurückgekehrt war, brauchte Nico vier Monate, bis er nicht mehr die eigenen Fingernägel abkaute, um sich für das zu bestrafen, was er getan hatte. Dass er sich so hatte manipulieren lassen, sich dem religiösen Geist hingegeben und im Namen Gottes getötet hatte. Mittlerweile waren die Ärzte begeistert von seinen Fortschritten. Er durfte Briefe empfangen und bekam sogar Ausgang auf der Anlage. In den letzten zwei Jahren hatte Nico sich so etwas wie Normalität erkämpft. Ja, es ging ihm besser. Was allerdings nicht bedeutete, dass er geheilt gewesen wäre.
Nico drehte sich zu dem Fenster in seinem Raum um und beobachtete gefasst und geduldig, wie die Pritsche, der Nachttisch und die bunte Kommode verschwanden, und stattdessen ein antiker Kerzenständer aus Eisen mit weißen Rosenkerzen erschien. Dann verwandelte sich das Fenster mit Sicherheitsglas wieder in das wunderschöne, bemalte Glasfenster der Kirche Sant’Agata dei Goti, die der heiligen Agatha geweiht war, die niemals ihrem Glauben abgeschworen hatte, nicht einmal, als die Folterknechte ihr die Brust abschnitten.
»Du siehst gar nicht
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