Die Maechtigen
jemand etwas mit hereinbringt.
Dort stand es jetzt. Ein weiteres Buch im größten Archiv der Welt.
Dreißig Sekunden später war Laurent verschwunden.
Und nach weiteren dreißig Sekunden verließ er inmitten einer Gruppe von Angestellten das Gebäude, gut versteckt vor den Blicken der Security.
Und wieder dreißig Sekunden später zog er sein Handy aus der Tasche und tippte eine Nummer ein, die er inzwischen auswendig wusste.
Als es klingelte, fegte ein verbeulter Toyota an ihm vorbei. Auf dem Kofferraum klebte ein Aufkleber: Ich bin nicht schuld – ich habe Wallace nicht gewählt.
Das Telefon hörte auf zu klingeln. Es nahm jemand das Gespräch an.
Laurent sagte kein Wort. Das brauchte er nicht.
Stumm klappte er das Handy zusammen. Die Nachricht war angekommen.
Viertes Buchregal. Ganz oben. So schnell wie möglich.
Ganz wie der Kunde es wünschte.
46. Kapitel
»Er ist verschwunden«, sage ich.
»Sieh an seinem Schreibtisch nach!«, befiehlt Totte.
Ich gehe von Verschlag zu Verschlag, komme an meinem eigenen Kabuff in unserem Großraumbüro im vierten Stock vorbei, aber ich kenne die Antwort schon.
Als wir ankamen, habe ich auf die Metalltafel mit den kleinen Magneten und unseren Fotos darauf geschaut. Zwei Personen waren anwesend. Alle anderen waren im OUT-Feld. Inklusive des einen Archivars, den wir gerade suchen: Dallas.
»Er geht nicht ans Handy. Vielleicht ist er unten«, sagt Totte. »Oder im Magazin.«
»Dort ist er nicht«, sage ich und gehe zurück zu der Metalltafel am Eingang. »Du kennst ihn doch; er checkt erst in dem Moment aus, in dem er wirklich den Raum verlässt. Gott möge verhüten, dass wir nicht wissen, wie fleißig er arbeitet und … Moment mal, wo ist Clementine?«
Totte sieht sich um. Die Tür zum Gang ist immer noch offen.
»Clemmi?«, rufe ich und verrenke mir fast den Hals, als ich einen Blick in den Gang werfe.
Da sitzt sie, mit gekreuzten Beinen auf dem gefliesten Fußboden. »Tut mir leid, ich bin einfach nur … es war ein anstrengender Tag.«
»Findest du? Also wenn ich meinen bis dato unbekannten Vater treffe, von der Security durchgeschüttelt werde und geheime Botschaften, die zu einem Mörder führen, entdecke, bin ich so richtig aufgekratzt.«
Sie lächelt gezwungen, hebt die Hand und zieht sich am Türrahmen hoch. Aber als sie sich aufrappelt, ist sie nicht mehr leichenblass. Ihr Gesicht ist grün.
»Es geht dir wirklich nicht gut, hab ich recht?«
»Würdest du bitte damit aufhören? Mir geht’s prima!«, beteuert sie und lächelt wieder gezwungen. Aber dann streicht sie sich ein paar Strähnen ihres schwarzen Haars hinters Ohr, und ich sehe, wie ihre Hand zittert. Ich hatte zwanzig Jahre Gelegenheit, mir romantische Vorstellungen von der starken Clementine zu machen. Dies ist das Schlimmste, wenn man alte Freunde wiedertrifft: wie die rosaroten Erinnerungen von der Wirklichkeit ausgebleicht werden.
»Ich bringe dich nach Hause«, erkläre ich und stelle fest, dass ich vor lauter Freude darüber, sie wiederzusehen, nicht gefragt habe, wo sie eigentlich lebt. »Wo in Virginia wohnst du? Ist es sehr weit?«
»Ich kann die Metro nehmen.«
»Klar kannst du das. Aber das war nicht die Frage. Also, wo wohnst du?«
»In der Nähe von Winchester. Nicht weit von der Shenandoah-Universität.«
Ich schaue zu Totte hinüber, aber der schüttelt schon den Kopf. Das ist weit, wirklich weit. »Bist du sicher, dass die Metro so weit fährt?«, will ich wissen.
»Erst die Metro, dann der Pendlerbus. Bleib locker, ich mache das jeden Tag.«
Ich schaue wieder zu Totte. Er schüttelt wieder den Kopf.
»Frag mich ja nicht, ob ich sie nach Hause fahre«, meint Totte.
»Darum will ich dich auch gar nicht bitten.«
»Und bitte mich ja nicht schon wieder um mein Auto«, warnt er.
Ich sage kein Wort. Clementines Gesicht ist grün, ihre Hand zittert noch. Totte mag sie vielleicht nicht. Ebenso wenig wie ihm ihre überfürsorgliche Art gefällt. Aber auch er merkt, wie es ihr geht. Sie wird es niemals alleine nach Hause schaffen.
»Es geht mir gut«, behauptet sie.
»Beecher …«, warnt Totte mich.
»Es wird alles gut. Du wirst schon sehen.«
»Nein, werde ich nicht«, gibt Totte zurück. »Ich bin müde und gereizt, und dank deines blöden Wörterbuches habe ich heute nichts auf die Reihe bekommen. Was mir jetzt noch fehlt, ist eine zweistündige Fahrt nach Virginia. Du bringst sie nach Hause, dann kommst du zurück und holst mich ab.«
»Genau. Ja, so
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