Die Mädchen (German Edition)
der Hand und eine Lesebrille auf der Nasenmitte sitzen. Sie sah aus
wie jemand, der mit beiden Beinen auf dem Boden der Wirklichkeit stand. Ein
wenig erinnerte sie Timo an seine alte Handarbeitslehrerin, die ihn immer ganz
genauso gemustert hatte, wenn er mit der von ihr gestellten Aufgabe nicht
zurechtkam. Dass sie das wunderte, hatte er bis heute nicht begriffen, er war
schließlich ein Junge und hatte absolut kein Talent für Stricken, Häkeln und
andere solcher Tätigkeiten.
Als Pädagogin hätte ihr das eigentlich klar sein müssen. S
tatt die Augenbrauen hochzuziehen,
hätte sie sich lieber Gedanken machen sollen, wie sie die Jungs besser hätte
motivieren können.
Plötzlich wurde ihm bewusst, dass
er die Frau anstarrte und sie eigentlich auf eine Antwort wartete, und wurde
rot.
„Entschuldigung, mein Name ist Timo
Hansen. Ich glaube, Sie haben meinen Vater einmal sehr gut gekannt.“
Bei der Erwähnung seines Namens war
sie sichtlich zusammengezuckt, hatte sich allerdings schnell gefangen. Jetzt
sah sie feindselig aus. „Was wollen Sie?“
Wenn er das mal gewusst hätte. „Ich
möchte nichts von Ihnen.“
„Woher wissen Sie von mir?“
„Mein Vater hat es mir erzählt.“
Sie schnaufte. „Na toll! Jetzt auf
einmal.“
„Mein Vater ist letzte Woche
verstorben.“
Sie machte große Augen und Timo
konnte sehen, wie ihre Feindseligkeit langsam etwas anderem wich, das er nicht
greifen konnte. Interesse? Betroffenheit? Eines war es sicher nicht. Trauer!
„Mein Gott!“ rief sie und fasste
sich an die Brust. „Vielleicht ist es besser, wenn Sie auf einen Moment
hereinkommen.“
Sie machte die Tür weit auf, ließ
ihn an sich vorbei und schloss hinter ihm ab. Seine erste Befürchtung war somit
nicht eingetreten. Er blieb in der Diele stehen und sie zeigte mit der rechten
Hand geradeaus.
„Lassen Sie uns ins Wohnzimmer
gehen.“
Er sah sich um und registrierte,
dass es ihr so schlecht wohl nicht ergangen war. Die alte Treppe, die nach oben
führte, war erst vor kurzem gestrichen worden und für den Fußboden hatte man
Fliesen ausgesucht, die zumindest teuer aussahen. Als er ins Wohnzimmer trat,
staunte er nicht schlecht, denn der Großteil der Einrichtung schien aus
Antiquitäten zu bestehen. Da gab es einen Bauernschrank, einen Sekretär und
einen großen rechteckigen Tisch aus dunklem Holz. Einzig die Couchgarnitur mit
einem Dreisitzer und einem Sessel schien mit ihrem hellen Leder nicht so recht
zu passen.
„Die Möbel habe ich von meinen
Eltern geerbt“, sagte sie und Timo errötete, weil er sich von ihr ertappt
fühlte. Sie zeigte auf die Couch. „Setzen Sie sich bitte. Kann ich Ihnen etwas
zu trinken anbieten?“
„Nein, danke.“ Timo nahm Platz.
Sie setzte sich ihm gegenüber auf
den Sessel, beugte sich vor
,
legte das Magazin auf den Tisch
und griff
mit
der anderen Hand
nach einem Etui
aus braunem Leder
, das
dort
auf dem Tisch lag. Sie öffnete es und
nahm sich eine Zigarette.
„Möchten Sie auch?“
„Ich rauche nicht.“
Sie nickte. „Sehr vernünftig. Ich
eigentlich auch nur ganz selten und sonst nur draußen. Aber heute mache ich mal
eine Ausnahme. Es stört Sie doch hoffentlich nicht?“
Es war klar, dass das eine rein
rhetorische Frage war. Was sollte er auch sagen? Es war ihr Haus und da konnte
sie machen, was sie wollte. Er konnte schon froh sein, dass sie ihn überhaupt
reingelassen hatte.
Sie zündete die Zigarette mit einem
goldenen Feuerzeug an, das sie aus der Hosentasche geholt hatte, inhalierte den
ersten Zug mit geschlossenen Augen und lehnte sich anschließend zurück, die
Beine übereinander geschlagen.
„Ihr Verlust tut mir leid.“
„Danke.“
„Woran ist Ihr Vater gestorben?“
Timo erzählte ihr, was passiert
war. Sie hörte interessiert zu, während sie an ihrer Zigarette zog. Der Rauch
zog zu ihm herüber und er unterdrückte nur mit Mühe den Impuls, ihn mit der
Hand wegzuwedeln. Nach der ersten Überraschung hatte sie sich gefangen und er
konnte an ihrem Gesicht nicht erkennen, ob der Tod seines Vaters sie betroffen
machte. Ihre Worte sprachen allerdings eine deutliche Sprache.
„Nicht, dass wir uns falsch
verstehen“, begann sie, nachdem er mit seiner Geschichte fertig war. „Ich hab
Ihnen schon vorhin gesagt, dass es mir für Sie leid tut, aber was Ihren Vater
betrifft, brauchen Sie von mir keine Trauer zu erwarten.“
„Das tue ich auch nicht.“
Sie nickte langsam und sah ihn
nachdenklich an. „Wissen Sie, Ihr Vater und
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