Die Mädchen (German Edition)
gelaufen wäre. Nein, nichts tun und
einfach abzuwarten, das war nichts für ihn.
Er hatte schon die Stunden bis zum
Morgen nichts anderes als die Sorgen um seine Tochter im Kopf gehabt und an
Schlaf hatte er gar nicht erst denken mögen. Dass Janine neben ihm wie eine
Tote schlief, hatte ihn fast wahnsinnig werden lassen. Man hätte meinen können,
es war gar nichts Besonderes vorgefallen. Wie, zum Teufel, konnte sie schlafen,
wenn niemand wusste, wo seine Tochter war? Am liebsten hätte er sie wachgerüttelt.
Aber wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass es nicht verwunderlich war,
wenn sich ihre Besorgnis in Grenzen hielt. Schließlich hatten seine Töchter ihr
mehr als deutlich gemacht, dass sie nichts mit ihr zu tun haben wollten. Sie
machten sie für das Scheitern der Ehe mit Almut verantwortlich, obwohl sie
damit gar nichts zu tun hatte. Aber wer wollte es ihnen verdenken? Almut hatte
da sicher ganze Arbeit geleistet. Und gerade Sina hatte Janine besonders übel
mitgespielt in letzter Zeit. Er verstand also, warum sie eher gelassen
reagierte, dass sie verschwunden war, aber deshalb gefiel es ihm trotzdem
nicht. Dass sie am Morgen wie das blühende Leben ausgesehen hatte, hatte es für
ihn auch nicht besser gemacht. Daher war er froh, dass es die Arbeit gab, die
ihn wenigstens ein bisschen ablenken konnte.
Das war es, was er gehofft hatte,
als er um halb sieben die Praxis betreten hatte, und Janine hatte ihr
Möglichstes getan, ihm das meiste abzunehmen. Und dennoch konnte er nichts dagegen
tun, dass seine Gedanken um nichts anderes kreisten als um seine Tochter. Wo
konnte sie sein? Sie hatte Birthe gesagt, dass sie bei ihm sein würde. Also
hatte sie etwas vorgehabt, von dem niemand etwas wissen sollte. Was konnte das
sein? Mit wem hatte sie sich getroffen? Ihm wurde ganz schlecht bei dem Gedanken,
dass ihr tatsächlich etwas zugestoßen sein konnte. Er wusste, er würde sich das
nie verzeihen können.
Eines zumindest war klar. Wenn Sina
wieder auftauchte, würde sich einiges ändern. Er würde das alleinige Sorgerecht
durchboxen und dann konnte Almut in aller Ruhe arbeiten so viel und so lange
sie wollte. Er hatte das Spiel viel zu lange mitgespielt. Auch wenn Janine das
nicht passen würde, darauf konnte er jetzt keine Rücksicht mehr nehmen. Er
hatte sowieso viel zu viel Rücksicht genommen. Auf Janine, die sich in
Gegenwart seiner Töchter unwohl fühlte, auf Almut, die Janine auf keinen Fall
begegnen wollte, auf Birthe, die das Extrageld gut gebrauchen konnte. Auf jeden
einzelnen, nur nicht auf seine Tochter. Damit war jetzt Schluss.
„Au“, rief der Patient unter ihm.
Er wusste sofort, dass er etwas
falsch gemacht hatte, denn Herr Weber war nicht sonderlich schmerzempfindlich.
Verflucht, da hatte er ein Stück Wange in der Schraube eingeklemmt. „Entschuldigung.
Es geht gleich wieder.“ Er drehte sie los und ließ seine Sprechstundenhilfe das
Blut mit dem Sauger wegsaugen. Zum Glück war es nicht viel. Er glättete die
Füllung und ließ den Patienten spülen. Dann nahm er ein Plastikblättchen und
legte es ihm zwischen die Zähne.
„Mahlen Sie mal ein bisschen mit
den Zähnen darauf herum.“
Herr Weber folgte seiner Anweisung.
Er nahm das Stück Plastik heraus
und warf einen erneuten Blick auf die Plombe. Sah gut aus. „Fühlt es sich
komisch an, wenn sie darauf herum beißen?“
Weber probierte und schüttelte dann
den Kopf. „Nein.“
„Dann sind wir fertig.“
Es klopfte an der Tür, während Herr
Weber sich den Papierlatz entfernte, und Janine steckte den Kopf herein.
„Marius, kommst du mal bitte.“
An ihrem Gesicht konnte er sehen,
dass es wichtig war. Sina! Er verabschiedete den Patienten bis nächste Woche
und verließ das Behandlungszimmer.
„Was ist? Gibt es etwas Neues?“ fragte
er sie ungeduldig, sobald er die Tür hinter sich geschlossen hatte.
„Ich hab keine Ahnung. Mir wollte
man nichts sagen.“ Sie zeigte mit der linken Hand auf den Raum, in dem sie
sonst die Zahnreinigung durchführte. „Es sind zwei. Ein Mann und eine Frau.“
Er nickte und holte einmal tief
Luft. Dann ging er in das Behandlungszimmer und schloss die Tür hinter sich.
Die beiden Besucher standen nebeneinander und drehten sich zu ihm herum. Er
brauchte nur in ihre Gesichter zu sehen und wusste, was passiert war.
„Sie haben Sina gefunden“, presste
er hervor.
„Es tut mir leid“, begann der Mann.
Er war knapp einsachtzig, schlank und hatte kurzes blondes Haar, das mehr
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