Die Mädchenakademie
bereitgelegt haben musste, zu. Eng kuschelte sich Emma an ihn. Sie nahm nicht einmal die Augenbinde ab. Mit ihm konnte sie nicht nur eine freie Sexualität ausleben und ihre erotische Seite näher kennenlernen, sondern sie fühlte sich auch unendlich geborgen bei ihm.
Es dauerte nicht lange, und sie war eingeschlafen. Als Emma erwachte, fühlte sie sich so selig und zufrieden wie ein Kätzchen, das stundenlang gekrault worden war. Sie drehte sich zu Christian um, aber er schlief tief und fest. Ihr Blick fiel auf die Post, die auf dem Couchtisch lag.
Sie schälte sich vorsichtig aus der Decke, um Christian nicht zu wecken. Auf leisen Sohlen ging sie zum Tisch, nahm das Paket, auf dem der Brief lag, und schlich damit in die Küche.
Emma schloss die Tür so leise wie möglich hinter sich, legte die Post auf die Arbeitsfläche und nahm ein Steakmesser aus dem Messerblock. Aufgeregt öffnete sie den Brief als Erstes, denn er war von Charlotte. Emma versuchte sie so oft wie möglich in der Untersuchungshaft zu besuchen, was aber wegen der Entfernung nicht so häufig sein konnte, wie sie es sich wünschte. In einer Woche war Prozessbeginn. Eine schwere Zeit würde für Charlie und ihre Familie anbrechen.
Charlotte schrieb, wie glücklich sie darüber war, dass Emma während des Prozesses anwesend sein würde, und dass Megan wieder vorbeigeschaut hätte. Leider hatten sich Holly und Lauren nie sehen lassen. Charlie war traurig darüber, nahm es den beiden jedoch nicht übel. Ein Mord, auch wenn er ein Unfall war, war schwer zu verzeihen. Außerdem, welche Achtzehnjährige traute sich schon in ein Gefängnis?
Emma war der erste Besuch auch nicht leichtgefallen, aber Christian hatte sie begleitet. Zudem wusste sie, wie dringend Charlotte Unterstützung brauchte. Sie war emotional ganz unten, labil, aber auf dem Weg der Besserung, auch dank eines Therapeuten.
Die Beziehung zu ihren Eltern war immer noch angespannt, aber besser geworden. Entgegen ihrer Befürchtungen, hatten sie Charlie nicht verstoßen, sondern die besten Anwälte für sie engagiert. Aus Schamgefühl hatten sie sich komplett aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Charlotte hegte jedoch die Hoffnung, dass sie ihr während der Prozesstage beistehen würden.
Emma war überzeugt, dass der Duke von Darsby und seine Frau im Gerichtssaal gleich hinter Charlie sitzen würden, egal, wie viele Kamerateams vor dem Gericht warten würden. Christian und sie hatten viele lange Gespräche mit ihnen geführt, um ihnen begreiflich zu machen, dass Homosexualität nur eine Variation der Liebe ist und dass ihre Tochter keine eiskalte Mörderin war.
Emma legte den Brief weg, denn ihr wurde ganz schwer ums Herz. Charlie hatte es nicht verdient, dass ihr Leben eine so schreckliche Wendung genommen hatte. Sie war ein liebenswertes Geschöpf, das sich nur nach Zuneigung sehnte, wie alle Menschen, insbesondere Heranwachsende. Und Emma war trotz allem, was geschehen war, bereit, sie ihr in Form von Freundschaft zu geben.
Sie atmete tief durch und packte das Paket aus. Stolz nahm sie eins der Belegexemplare hoch, die darin lagen. Nachdem das White Garden College geschlossen worden war, hatte sie es nicht übers Herz gebracht, ihr Tagebuch in der Kapelle zurückzulassen. Es war ein Teil von ihr. Außerdem empfand sie das Bedürfnis, ihre wundervollen Erlebnisse mit anderen zu teilen und andere junge Menschen zu animieren, ihre Lust auszuleben, besonders mit jemandem, den sie liebten. Deshalb nahm Christian einen großen Teil der Aufzeichnungen ein.
Stolz zeichnete sie mit ihrem Zeigefinger die geschwungenen Buchstaben ihres Pseudonyms Evangeline nach.
Ihr Vater, dem nicht nur ein Zeitungs-, sondern auch ein Buchverlag gehörte, hatte kurz entschlossen eine kleine Auflage drucken lassen. Sie war innerhalb eines Monats restlos ausverkauft gewesen, was Emma mehr erstaunt hatte als alle anderen, zumal keine Werbung gemacht worden war. Ihr Tagebuch war überraschenderweise unter Top-secret-Pseudonym zu einem kleinen Internet-Bestseller avanciert.
Und nun hielt sie bereits die zweite Auflage ihres ersten eigenen Taschenbuchs in Händen, weil inzwischen auch Buchhandlungen angefragt hatten. Dem Buch sollten viele weitere folgen, erotische natürlich.
Emma lächelte glücklich. Dank Christian fehlte es ihr nicht an Inspiration für einen zweiten Teil der »Mädchenakademie«.
Originalausgabe 07/2010
Copyright © 2010 by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random
Weitere Kostenlose Bücher