Die Mädchenwiese
zweiten Etage. Direkt vor der Wohnungstür.
Der Anruf erreichte Laura fünf Minuten nachdem sie das Haus verlassen hatte. Ihr Schwager steuerte das Einsatzfahrzeug mit Blaulicht nach Lichtenberg.
»Sam ist nicht da«, teilte ihnen Renate mit.
»Wie? Er ist nicht da?«, rief Laura aus. »Er war doch vorhin noch in seinem Zimmer.«
»Nein, war er nicht.« Renate hatte in Sams dunklem Zimmer nur einen Haufen Kleidung vorgefunden, die von ihm sorgfältig unter der Bettdecke drapiert worden war.
»Sag, dass das nicht wahr ist!«, zischte Laura.
»Bestimmt ist er in den Wald«, sagte ihre Schwägerin beschwichtigend. »Wo er immer hingeht, wenn’s ihm zu viel wird.«
»In den Wald?« Noch wenige Minuten zuvor hatte Laura grenzenlose Erleichterung verspürt, jetzt verpuffte jeder Hauch von Gelassenheit. »Glaubst du vielleicht, es ist eine gute Idee, dass er sich jetzt im Wald herumtreibt?«
Renate antwortete nicht.
»Wahrscheinlich ist er gar nicht im Wald«, sagte Frank. Dann bremste er und steuerte den Wagen auf die Autoschlange zu, die sich vor einer Ampel bildete. »Bestimmt ist er nur in den Jugendclub gegangen, dort verbringt er doch auch gerne seine Zeit.« Er nahm Laura das Telefon aus der Hand. »Wir fahren weiter ins Krankenhaus, zu Lisa«, erklärte er seiner Frau. »Geh du rüber in den Club. Und wenn Sam dort nicht ist, geh in den Wald. Aber geh nicht allein!« Er legte auf und reichte Laura ihr Handy. »Mach dir keine Sorgen, Renate wird ihn finden.«
»Das sagt sich so leicht«, murmelte Laura. Aber dann redete sie sich ein, dass ihr Schwager vermutlich recht hatte. Sam war nur in den Jugendclub gegangen, wo er mit den anderen Kindern gerne seine Zeit verbrachte. Als das Klinikum in Sicht kam, spürte sie, wie sie sich wieder beruhigte.
Frank bremste den Wagen. Kaum dass der in zweiter Reihe zum Stehen gekommen war, stürzte Laura hinaus und an den wartenden Taxis vorbei. Im Krankenhaus rannte sie weiter, wich oft erst im letzten Moment Patienten in Rollstühlen und gestressten Pflegern aus, die ihren Weg kreuzten. Sie lief in die Lobby, sah sich nach Hinweisschildern um, fand, was sie suchte, und rannte den entsprechenden Flur entlang zur Intensivstation. Als sie die Durchgangsschleuse erreichte, sprang ein Polizist von einem Stuhl auf und stellte sich ihr in den Weg.
»Ich will zu meiner Tochter!«
»Sorry, aber …«
»Ist schon gut«, beruhigte ihn Frank, als er aus dem Treppenhaus kam. Zu Laura sagte er: »Keine Sorge, er ist zu Lisas Schutz da. Er passt auf, dass kein Unbefugter Zutritt zur Intensivstation bekommt.«
»Du meinst …«
»Sicher ist sicher.« Er wies auf einen Arzt, der sich ihnen näherte.
Laura stürzte auf ihn zu. »Ich bin Lisas Mutter. Wie geht es ihr?«
»Wie erwartet.«
»Was soll das heißen?«
Der Doktor kratzte sich seinen grauen Vollbart. Auf einem kleinen Schild an seinem Kittelrevers prangte sein Name: Dr. M. Liss. »Ihre Tochter scheint stundenlang bei dem Sturm letzte Nacht durch den Wald geirrt zu sein. Angesichts ihrer Verletzungen und Wunden muss sie das enorm viel Kraft gekostet haben …«
Verletzungen? Wunden? Laura schauderte. Aber Lisa lebt! Sie lebt! »Was … was … ist mit ihr passiert?«
»So genau können wir das noch nicht sagen.«
»Kann ich … kann ich sie sehen?«
»Ja, aber nur kurz.«
Frank stellte sich vor und fragte: »Kann sie reden?«
Dr. Liss nickte.
»Hörsinn und Sprachvermögen scheinen normal zu funktionieren, und sie reagiert auf visuelle Reize, aber ihre Herzfrequenz schwankt.«
»Also kann sie mir einige Fragen beantworten.«
»Ich fürchte, nein.« Der Arzt schüttelte bedauernd den Kopf. »Ihr fehlt die Kraft für diese Anstrengung. Außerdem kann sie sich nicht an alles erinnern, was passiert ist.«
»Eine Amnesie?«
»Manchmal verdrängt das Bewusstsein gewisse Dinge … zum Schutz. Sie ist traumatisiert. Weshalb wir ihr vor wenigen Minuten auch Beruhigungsmittel verabreicht haben. Sie braucht unbedingt Ruhe.«
»Trotzdem …«
Aus Dr. Liss’ Vollbart drang unwilliges Grummeln.
»Es ist wichtig«, beharrte Frank.
»Na gut, aber bitte nur kurz.« Der Arzt wartete, bis sie sich Schutzkleidung übergestreift hatten. Danach schritt er voran durch die Sicherheitsschleuse, dem zweiten Raum auf der linken Seite entgegen. Eine ganze Armee von Instrumenten surrte in dem Zimmer vor sich hin, die Überwachungsmonitore zeigten Blutdruck, Temperatur und einen gleichförmig grünen Zickzackstreifen –
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