Die Mädchenwiese
Hoffnung verlieh. Das klingt paradox, aber das ist es keineswegs. Denn mit dem Lächeln meiner Mutter, das mit jedem Tag, an dem ihre Gesundung fortschritt, ein bisschen mehr erblühte, wuchs meine Zuversicht, dass mein Leid irgendwann ein Ende haben würde.
Irgendwann , so redete ich mir ein, wird Mama wieder auf eigenen Beinen stehen . Dann würden wir die Hilfe meines Onkels nicht mehr benötigen, und er würde unser Haus verlassen.
Als mich meine Tante eines Mittags mit verweinten Augen an der Tür empfing, dachte ich für einen kurzen Moment, ich wäre von meiner Qual erlöst.
»Es ist so schlimm«, sagte sie.
Mein Onkel , schoss es mir durch den Kopf, ihn hat der Schlag getroffen. Ich bin ihn endlich los .
Doch das, was meine Tante dann sagte, holte mich in die Realität zurück. »Deine Mutter, sie ist in der Backstube zusammengebrochen. Die Ärzte sagen, sie ist schwer krank.«
Kapitel 14
Laura hatte Abendessen zubereitet. Backofenpommes, ein Schnitzel und dazu einen Blattsalat. Zu mehr hatte ihre Kraft nicht mehr gereicht. Ihr Sohn hockte am Küchentisch und stocherte in dem inzwischen kalten Essen herum.
»Wenn du keinen Hunger mehr hast, mach dich davon.«
Er rutschte vom Stuhl, als hätte er nur auf ihre Erlaubnis gewartet.
»Sam!« Sie seufzte. »Vergiss deine Hände nicht.«
Folgsam hielt er seine Finger unter den Wasserstrahl und trocknete sie dann am Handtuch ab.
»Ich komm’ gleich nach. Dann machen wir deine Hausaufgaben, okay?«
Sie lauschte seinen Schritten auf der Treppe und wünschte sich, er würde sich normal benehmen und mit ihr reden. Sie sah zur grellgelben Küchenuhr. 20.34 Uhr.
Es waren nur eineinhalb Stunden vergangen, aber ihr kam es vor wie eine Ewigkeit, seit ihr Schwager nach Berlin aufgebrochen war, um auf dem Polizeipräsidium mit seinem Dienststellenleiter über eine Öffentlichkeitsfahndung zu sprechen. Seitdem hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Diese Ungewissheit machte sie fast verrückt. Sie konnte nicht herumsitzen und warten, aber so zu tun, als ginge das Leben einfach weiter, fiel ihr ebenso schwer. Doch ihr blieb keine andere Wahl.
Sie warf die kalten Pommes in den Mülleimer und räumte das Geschirr in die Spülmaschine. Sie zwang sich zu einem Lächeln, als sie hinauf in das Zimmer ihres Sohnes ging. Sam saß auf dem Teppichboden und war mit seinen Spielfiguren beschäftigt. Das Lächeln auf ihren Lippen erstarb. »Sam, ich dachte, du machst deine Hausaufgaben.«
Er setzte sich an seinen Schreibtisch und schlug ein Mathebuch auf. Laura überprüfte die Anzeige ihres Handys. Kein Anruf. Es war kurz vor neun, und Frank hatte sich noch nicht gemeldet.
»Sam!« Ihre Stimme war schärfer als gewollt, als sie ihren Sohn dabei ertappte, wie er in einem Comic-Heft blätterte. »Du sollst deine Hausaufgaben machen.«
Er beugte sich über sein Schulheft.
»Komm, ich helf’ dir.«
Sie hatte Mühe, sich auf die Übungen zu konzentrieren, und war froh, als sie die Aufgaben endlich geschafft hatten. Sam zog seinen Simpsons-Schlafanzug an, putzte sich die Zähne und ging zu Bett. Sie gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Schlaf schön.«
»Mama?«
Laura blieb im Türrahmen stehen.
»Lisa kommt doch wieder, oder?«
Ihr Magen zog sich zusammen. »Ja, ganz bestimmt.«
Sie löschte das Licht und ging zur Treppe. Bevor sie ihren Fuß auf die Stufe setzte, blieb sie stehen.
Lisa kommt doch wieder, oder?
Sie kehrte um, ging schnurstracks in das Zimmer ihrer Tochter und wühlte sich durch das Chaos. Sie wollte nicht glauben, dass es keinen einzigen Hinweis auf den Verbleib oder den Freund ihrer Tochter gab.
Aber wonach sie vor allem suchte, war etwas anderes: nach einem Beweis, dass ihre Tochter tatsächlich nur von zu Hause weggelaufen war. So, wie Frank es gesagt hatte. Verbissen suchte sie Lisas Jacken- und Hosentaschen nach einem Einkaufszettel ab, nach einer Notiz mit einer Telefonnummer, einem Bierdeckel mit einer Adresse, irgendetwas, und wenn es nur eine Kleinigkeit war, die sie bisher übersehen hatte. Sie fand Kleider und Blusen, die sie nicht kannte.
Es klingelte an der Tür. Laura rannte hinunter und öffnete die Tür. Vor ihr stand ihre Schwägerin. »Laura, Mensch, was ist mit deinem Handy? Frank versucht dich die ganze Zeit zu erreichen.«
Lauras Herz schlug schneller. Sie zog ihr Telefon aus der Hosentasche. Der Akku war leer. »Wieso?«
Renate ging an ihr vorbei ins Wohnzimmer. Dort schaltete sie den Fernseher ein.
Nachdem die letzten
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