Die Mädchenwiese
Fesseln, doch die Seile schnitten sich nur tiefer in ihre Haut.
Kapitel 13
Meine Freundin Regina war die Erste, die meinen Wandel bemerkte.
»Du bist in letzter Zeit so still«, stellte sie fest.
Mir war, als schrumpfte ich unter ihrem forschenden Blick. Ich klammerte mich an meinen Brotkorb, schlug den Deckel auf und nahm eine Stulle. Sofort ging ein Schwarm Fliegen auf mich los.
Es war ein warmer Sommertag, kurz vor meinem fünfzehnten Geburtstag, und obwohl ich nur wenig Begeisterung empfand, hatte Regina mich zu einem Picknick auf unserer Waldwiese überredet. Ich biss in die Stulle, scheuchte die Fliegen fort und war froh, dass ich dabei dem Blick meiner Freundin ausweichen konnte.
»Du erzählst kaum noch was«, fügte sie hinzu.
Obwohl ich keinen Hunger hatte, nahm ich einen zweiten Bissen.
»Geht’s dir nicht gut?«
»Blödsinn!«, sagte ich, als hätte ich noch nie etwas Absurderes gehört. Woher hätte Regina auch wissen sollen, dass mit jedem Tag, den unser Schulabschluss näher rückte, mein Grauen davor wuchs, noch mehr Zeit daheim und in der Bäckerei zu verbringen, mit meinem Onkel? Allein bei dem Gedanken daran brach mir der Schweiß aus.
»Was ist bloß los mit dir?«, erkundigte sich Harald, als wir ein paar Wochen später auf der Bank am Dorfplatz beisammensaßen. »Du bist so seltsam geworden.«
»Seltsam? Was soll denn das heißen?«
»Ständig braust du so auf.«
»Tu ich doch gar nicht«, sagte ich aufgebracht.
»Da, genau das meine ich. Du bist so …« Er gestikulierte wild mit den Armen. »Ach, ich weiß auch nicht. Immer wenn ich dir nahekommen möchte, versteifst du dich.«
Was hätte ich ihm antworten sollen? Dass ich schon seit Monaten zu viel Nähe erfuhr?
»Irgendwas ist mit dir«, bemerkte schließlich sogar meine Mutter. Sie hantierte in der Küche. Im Radio erklang die Schlagerrevue . »Du bist so gereizt in letzter Zeit.«
»Lass mich doch.«
»Den Kunden im Laden ist das auch schon aufgefallen.«
»Was wissen die schon!«
»Aber Kleines …«
»Nenn mich nicht Kleines!«
Mutter sah mich mit großen Augen an. Ich wurde wütend, auf meine Mutter, auf meinen Onkel, auf meine Freunde, Regina, Harald, auf die ganze Welt. Sogar auf meinen Vater.
»Komm, iss erst einmal was.« Mutter drückte mir ein Stück Pflaumen-Prasselkuchen in die Hand. »Ich hol’ dir was zu trinken.«
Der Kuchen schmeckte süß und trocken. Staubtrocken. Ich zwang mich, die Krümel in meinem Mund zu schlucken. Ich hatte das Gefühl, die Schlagermusik würde immer lauter. Sie wurde unerträglich.
»Nein!«
Noch ehe ich begriff, was ich tat, nahm ich das Radio und warf es in hohem Bogen gegen die Wand. Das Gerät zerbarst.
»Was ist passiert?« Meine Mutter starrte auf die Reste des Radios. »Warum hast du das gemacht?«
Ich konnte es nicht erklären. Ich hatte einfach nur den Drang verspürt, es zu zerstören. Aber besser fühlte ich mich trotzdem nicht. Ohne ein weiteres Wort stürmte ich nach draußen. Da es unerträglich heiß war, flüchtete in den kalten Stall und hockte mich zu den kauenden Kühen. Ich hielt meine Knie umklammert und weinte, Schuldgefühle überwältigten mich. Meine Mutter konnte doch nichts dafür.
Ich kehrte zurück ins Haus. Ich wollte mich bei meiner Mutter entschuldigen und mit ihr reden − über alles. Doch ich blieb in der Diele stehen, als Mutters Stimme an mein Ohr drang.
»Ich weiß einfach nicht, was ich mit ihr machen soll«, sagte sie zu meinem Onkel.
»Hab Geduld«, antwortete er, »das ist nur der Tod ihres Vaters.«
»Aber es sah doch schon so aus, als hätte sie ihn überwunden.«
»Sie ist noch jung, Ingrid, und hat die Trauer nie richtig verarbeiten können. Erinnere dich nur, was das Kind alles leisten musste, als du krank warst.«
»Das arme Kind!« Meine Mutter schluchzte.
»Aber ich kümmere mich um sie«, erklärte mein Onkel. »Versprochen.«
Ich hielt die Luft an. Die gleichen Worte hatte er in jener Nacht zu mir gesagt, als er sich das erste Mal in mein Zimmer geschlichen hatte. Mit einem Mal verstand ich, warum mein Onkel tatsächlich zu uns zurückgekehrt war. Weshalb er mir in all den Jahren mittags mit den Tieren geholfen hatte. Ich durchschaute sogar seine Blicke, mit denen er mich bei der Arbeit beobachtet hatte, und sein Zwinkern.
»Kleines.« Meine Mutter trat zu mir in den Flur. »Geht es dir gut?«
Als ich nickte, lächelte sie.
Es war dieses Lächeln, das mich zum Schweigen verdammte – und mir zugleich
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