Die Mädchenwiese
beiden Barhocker ins Freie gewankt waren, wollte Alex die Elster schließen. Doch Ben erschien in der Tür.
»Eigentlich«, erklärte Alex, »wollte ich nur noch eine Kleinigkeit essen, duschen …«
»Stimmt, du müffelst wie ein Brauereipferd.«
»… und ins Bett.«
»Ich kann dir eine Gutenachtgeschichte vorlesen.«
Alex und Ben erklommen die Stufen, die zur Wohnung führten. Alex ging als Erstes in die Küche und bereitete Gizmo seine abendliche Mahlzeit. Sofort fiel der Retriever über seinen Napf her. Mit zwei Stullen, einer Cola light und einem Radeberger gesellte sich Alex zu Ben, der bereits im Wohnzimmer auf der Couch saß. Der Raum war klein und behaglich, trotz einer alten Tapete.
Ben hatte den Fernseher eingeschaltet. Alex sank aufs Sofa und knabberte an seinem Brot, während er dabei zusah, wie ein Superheld in Strumpfhosen gegen Bösewichter kämpfte.
»Bist du nur gekommen, um dir diesen Schrott reinzuziehen?«
Ben nahm einen Schluck Bier. »Ich dachte, wir plaudern ein wenig, zum Ausklang des Tages.«
»Plaudern?«
Gizmo trottete in den Raum und rollte sich in seinem Korb zusammen.
Ben leerte sein Radeberger in einem Zug. »Na gut, du hast mich ertappt. Eigentlich wollte ich hören, ob du …«
Er verstummte, als er die Türklingel hörte. Gizmo sprang wild kläffend aus seinem Korb. Alex folgte ihm die Stufen hinunter.
»Ich hab’ noch Licht brennen sehen«, begrüßte ihn Paul.
»Was machst du um diese Zeit noch hier?«
»Ich war bei meiner Exfrau, musste was mit ihr klären wegen des Schulgelds unserer Kinder. Auf der Rückfahrt dachte ich mir, ich schau’ mal bei dir vorbei.«
»Noch einer, der neugierig ist«, sagte Ben amüsiert.
Paul runzelte die Stirn.
»Vergiss es!« Alex erklomm ein zweites Mal die Treppe und brachte aus der Küche noch ein weiteres Radeberger ins Wohnzimmer. Gizmo hatte es sich bereits wieder in seinem Korb bequem gemacht. Paul saß auf dem Sofa neben Ben, der den Fernseher wieder lauter gestellt hatte und durch die Kanäle zappte. Die nächsten Minuten vergingen in einträchtigem Schweigen.
»Also wenn ihr sonst nichts zu sagen habt, würde ich vorschlagen, ihr …«, begann Alex schließlich.
»Ben, warte!«, fiel ihm Paul ins Wort.
»Was? Das?« Ben lachte. Eine halbnackte Domina schwang eine Peitsche, während grellrote Buchstabenblitze dem Zuschauer befahlen: Ruf! Mich! An! »Ich wusste gar nicht, dass du auf so was …«
»Schalt zurück!«
Auf 3sat schmetterte eine stark geschminkte Diva eine Arie.
»Weiter!«
Beim RBB erschien eine pausbäckige Moderatorin auf dem Bildschirm. Die Spätwiederholung der Abendschau .
Laura starrte auf den Fernseher, auf dem in dieser Sekunde ein Foto eingeblendet wurde. Darunter flimmerte ein Schriftzug. Gesucht: Lisa T. (16) aus Finkenwerda!
Plötzlich kam ihr die ganze Situation unwirklich vor. Es konnte sich nur um einen Irrtum handeln oder um einen Streich, den Lisa ihr spielte. Mit einem Mal war Laura sich nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee gewesen war, in dieser Form an die Öffentlichkeit zu gehen.
»Bereust du es?«, fragte Renate, als wüsste sie um Lauras Gedanken.
»Nein«, antwortete sie und nickte zugleich. Dann kramte sie aus einer Schublade das Ladekabel hervor und ließ ihr Handy aufladen. Sie brauchte eine Weile, um ihre Gedanken zu ordnen. »Es ist wohl nur … Ich hab’ schon zu viele Beiträge über vermisste Kinder und Jugendliche gesehen, und ich weiß, wie deren Verschwinden endete.«
»Aber genau deshalb hast du doch den Fernsehaufruf gewollt. Damit Lisas Verschwinden kein solches Ende findet.«
»Ja«, sagte Laura tonlos. Doch diesen TV -Beitrag zu sehen, verlieh dem Verschwinden ihrer Tochter eine beängstigende … Endgültigkeit .
Mit zitternden Fingern holte sie die Marlboro-Schachtel aus ihrer Hosentasche. Sie war fast leer. Laura konnte sich nicht erinnern, so viele Zigaretten geraucht zu haben. Doch das war ihr gleichgültig, solange es ihr half, die Nerven zu behalten. Sie musste fest daran glauben, dass Lisa wirklich nur weggelaufen war und dass sie bald wieder zurückkehrte. Das ist fast immer so.
Im Fernsehen lief inzwischen ein Bericht über eine Fitnesstrainerin. Laura betrachtete die gertenschlanke Frau, die sich auf irgendwelchen Geräten abmühte und dabei ein strahlendes Lächeln zeigte. In diesem Moment nahm Laura sich vor: Wenn Lisa zurück ist, gönne ich mir etwas Ruhe. Vielleicht würde sie dann auch ein Fitnessstudio aufsuchen und etwas
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