Die Mädchenwiese
Glück würde seine Mutter nichts von seinem Schulschwänzen erfahren, und mit Onkel Frank konnte er am Nachmittag immer noch reden. Es sei denn –
Was sprach dagegen, wenn Sam seine Schwester auf eigene Faust suchte, mit ihr redete und sie darum bat, nach Hause zu kommen? Daran ist doch nichts Schlimmes!
Vorsichtig äugte er über den Zaun. Dann schob er das Türchen auf und zwängte sich durch einen schmalen Spalt in den Schuppen. Als er sein Mountainbike − ein altes Fahrrad, das wie sein Pullover viel zu klein war − herausholte, klimperte das Windspiel am Holzbalken. Kurz darauf warf ein Windstoß die Schuppentür ins Schloss.
»Sam!«, schrie Sams Mutter.
»Sam!«, wiederholte Laura. »Verflixt, Sam!«
Er hörte sie nicht und schob sein Mountainbike auf den Pfad, der zur Dorfstraße führte.
Laura rannte los. Weil sie keine Schuhe trug, bohrten sich Eicheln und spitze Zweige in ihre Fußsohlen, aber das kümmerte sie nicht.
Sie rannte quer durch den Garten. Sam saß bereits auf dem Sattel und trat in die Pedale.
»Bleib stehen! Sofort!«
Sam schoss auf die Dorfstraße, ohne nach links oder rechts zu sehen. Als sie einen Pkw-Motor brummen hörte, stockte Laura der Atem. Doch nichts geschah. Sam fuhr weiter, jetzt in Richtung Ortsausgang.
»Sam!«
Sie beschleunigte ihren Schritt und achtete nicht auf die Steinchen, die in ihre nackten Füße schnitten. Keuchend erreichte sie das Straßenpflaster.
»Sam!«
Ein Hupen ertönte. Laura blieb entsetzt stehen. Reifen quietschen.
»Laura!«
Nur wenige Zentimeter vor ihr war der Wagen zum Stehen gekommen. Der Fahrer eilte mit blassem Gesicht auf sie zu.
»Meine Güte, Laura, Liebes!«
»Patrick?« Die Beine gaben unter ihr nach. Patrick fing sie auf und trug sie zum Fahrersitz seines Wagens. Erleichtert sank sie in das Polster. Nur langsam beruhigte sich ihr Puls.
»Was ist los?«, erkundigte sich Patrick.
Wenn ich das bloß wüsste! , dachte Laura.
»War das gerade dein Sohn auf dem Fahrrad?«
Laura fuhr hoch. Ihr Blick suchte die Straße ab. Sam war nicht mehr zu sehen. Inzwischen konnte er überall sein. Wahrscheinlich war er wieder im Wald. Sie stieg aus dem Auto und ging auf Zehenspitzen zurück zum Haus. Sie fragte sich, was in ihrem Sohn vorging und was sie überhaupt über ihre Kinder wusste.
Die ernüchternde Antwort war: Gar nichts.
Alex hielt den Hörer in der Hand und hatte plötzlich einen schalen Geschmack auf der Zunge. »Hallo?«
Als Antwort bekam er nichts als Schweigen. Für einen Augenblick dachte er, sein Freund hätte sich einen Scherz erlaubt, und er wurde wütend auf Paul.
Ein Husten klang aus dem Hörer. »Hier ist … na ja, also … du weißt, wer.«
Alex’ Blick fand Paul, der sich mit einer Zeitung an den Stammtisch in der Ecke zurückgezogen hatte.
»Alex?«
Die heisere Stimme klang beunruhigt und irgendwie fremd. Wie sollte sie auch sonst klingen? , dachte Alex. Der Anrufer war ein Fremder für ihn.
»Ja«, erwiderte Alex und fragte sich, wie er den Anrufer ansprechen sollte. Weder Papa noch Herr Steinmann erschienen ihm passend.
»Arthur«, sagte er.
»Du wunderst dich bestimmt, warum ich dich anrufe.« Arthur hustete.
»Offen gestanden wundere ich mich zurzeit über vieles.«
»Ich würde dir gerne alles erklären.«
Alex war sich nicht sicher, ob er die Erklärungen jetzt schon hören wollte. Ich brauche einfach noch etwas Zeit, ich muss erst einmal die Wahrheit verdauen , schoss es ihm durch den Kopf. Ihm missfiel Arthurs Ungeduld.
»Ich muss mit dir reden«, sagte Arthur, »dringend.«
»Ich weiß, du bist krank und …«
»Nein, nicht deswegen. Ich muss dir … etwas …« Arthur gab ein Krächzen von sich.
»Ich höre«, entgegnete Alex.
»Nicht am Telefon. Ich muss dir auch etwas zeigen.« Arthurs Stimme klang verzweifelt. »Können wir uns treffen?«
Alex wurde wütend. Gizmo kam zu ihm hinter die Theke und drückte seine Schnauze gegen Alex’ Bein. »Was soll die Geheimniskrämerei?«
Arthur ging nicht darauf ein. »Es ist wichtig.«
Alex zögerte.
»Bitte.«
»Meinetwegen.«
Alex hörte Arthur ausatmen. »Kennst du das Einstein ?«
»Das Unter den Linden oder …«
»Ja, dort. Heute?«
Alex schaute auf die Uhr. »Das ist schlecht, ich habe …«
»Es ist wirklich wichtig«, unterbrach Arthur ihn.
»Na gut. In einer Stunde. Aber ich habe … Hallo?«
Arthur hatte das Telefonat bereits beendet. Alex legte auf. Erst jetzt stellte er fest, dass er in einer Hand noch immer
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