Die Mädchenwiese
klingelte. Die angezeigte Nummer war ihr fremd. »Ja bitte?«
»Hardy Sackowitz vom Berliner Kurier , guten Tag. Frau Theis, ich hab’ das von Ihrer Tochter gehört. Gibt es inzwischen …«
»Woher haben Sie meine Nummer?«
»Frau Theis, ich bin Journalist und …«
Laura legte auf.
»Wer war das?«, fragte Patrick besorgt.
Laura winkte ab. Sie musste an die Worte ihres Schwagers denken: Hast du eine Ahnung, was du damit lostrittst? Ein plötzlicher Schauder ergriff sie. Sie rauchte die Marlboro zu Ende, dann wählte sie die Nummer ihres Schwagers.
»Sam ist nicht in der Schule«, sagte sie.
»Wie? Was? Renate hat ihn doch …«
»Ich habe ihn gerade gesehen. Er ist mit dem Fahrrad unterwegs. Ich hab’ ihn gerufen, aber … er ist weggefahren.«
»Was zum Teufel …«, rief Frank. »Nein, warte! Ich mach’ mich auf den Weg. In einer Dreiviertelstunde bin ich bei dir, okay?«
»Danke.« Laura griff nach der Marlboro-Schachtel.
Patricks Finger berührten ihre Hand. »Wovor hast du Angst?«
»Was soll die Frage?« Irritiert sah sie ihn an. »Meine beiden Kinder …«
»Nein, ich meinte nicht deine Kinder.«
»Der Rest ist mir scheißegal.«
Patrick legte seine Stirn in Falten. »Unsere Beziehung ist dir scheißegal?«
»Ich finde, es ist ein denkbar schlechter Zeitpunkt, um …«
»Meine Güte, Laura, nein, was ich wissen will, ist: Warum lässt du mich dir nicht helfen?«
Seine Finger hielten noch immer ihre Hand. Sie spürte die Wärme, die von ihnen ausging. Für einige Sekunden genoss sie die Vertrautheit. Es war ein gutes Gefühl, Verzweiflung und Furcht mit jemandem teilen zu können.
»Hast du Angst davor, wieder enttäuscht zu werden?«, fragte Patrick.
Laura befreite ihre Hand und nahm die nächste Zigarette aus der Schachtel. Plötzlich fühlte sie sich durchschaut. Ja, ich habe Angst davor, noch einmal enttäuscht zu werden , dachte sie. Doch sie hatte ganz andere Probleme: Ihre Tochter war seit Freitag spurlos verschwunden und ihr Sohn vor ihr geflohen.
Patrick sah sie erwartungsvoll an. Laura zog an der Marlboro. Sein Gesicht bekam einen enttäuschten Ausdruck. »Dann ist es besser, wenn ich jetzt gehe, oder?«
Laura schwieg.
Er nickte, als hätte er nichts anderes erwartet.
Lisa fuhr zusammen. Sie hob die Hand, um einen Schlag abzuwehren.
Erneut drang die leise Stimme an ihr Ohr. »Ich wollte dich nicht …« Die weiteren Worte gingen in einem Husten unter.
Lisa atmete erleichtert aus. Sie war alleine in ihrer Zelle.
»Hab’ ich dich erschreckt?«
Lisa robbte über den Steinboden zu der Zellentür. Im schwachen Licht der Glühbirne konnte sie die Umrisse eines schmalen Kellergewölbes erkennen.
»Es tut mir leid, aber … ich wollte dir nur sagen, du solltest besser nicht so laut sein.«
»Wer bist du?«, presste Lisa leise hervor.
»Silke. Und du?«
»Lisa.« Als die Frau nichts erwiderte, fragte Lisa: »Silke, was machst du hier?«
»Lisa, was machst du hier?«
»Scheiße, verdammt«, platzte es aus Lisa heraus. »Das weiß ich doch nicht. Ich weiß es nicht. Ich habe …«
»Sei still«, zischte Silke. »Was hab’ ich dir gerade gesagt? Sei still, oder willst du …« Ihrer Lunge entwich ein Pfeifen.
Lisa zupfte an dem Saum ihres Kleides. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie außer ihrem Lieblingskleid und einem Slip nichts trug. Sie vermisste ihre Sandaletten, ebenso den Rucksack, ihr Handy und den teuren Armreif, den Berthold ihr geschenkt hatte. Sie fröstelte und schlang die Arme um ihren Leib. Doch das machte die Kälte nicht erträglicher. Aus der Dunkelheit kam ein Krächzen.
»Geht es dir gut?«, fragte Lisa.
»Wie klingt es denn?«
»Beschissen.«
»Und weißt du was? So fühle ich mich auch. Ich huste mir hier seit Tagen die Seele aus dem Leib und …«
»Was soll das heißen?«, unterbrach Lisa sie. »Wie lange …«
Plötzlich setzte die Musik wieder ein. Es war das gleiche Lied wie beim ersten Mal, nur dass es diesmal nicht so übersteuert war. Jetzt verstand Lisa sogar den Gesang.
Ihr Herrn, urteilt jetzt selbst: Ist das ein Leben? , sang eine Frau mit glockenheller Stimme. Ich finde nicht Geschmack an alledem.
Trotz des lieblichen Gesangs klang das Lied bedrohlich.
Als kleines Kind schon hörte ich mit Beben. Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm.
Sie lehnte ihren Kopf gegen die Gitterstäbe. Der Stahl kühlte die Wunde an ihrer Schläfe. Die Musik brach ab.
»Silke?«, fragte Lisa. »Wie lange bist du …«
»Sei
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