Die Mädchenwiese
Worten, aber in seinem Kopf fand sich nichts außer Schmerz. Er dachte kurz daran aufzustehen, ihre Hand zu nehmen und sie zu trösten, verwarf diese Idee aber sofort wieder.
Dann war der Moment vorüber, und sie stieg die Stufen hinab. Mit einem leisen Klick fiel die Tür ins Schloss. Erst jetzt erhob er sich und trat ans Fenster. Lisas Mutter überquerte die Straße. Am Dorfplatz stand ein schwarzer Touareg, der Fahrer nur ein Schemen hinter dem Lenkrad.
Alex stürmte die Treppe hinunter, Gizmo kläffte aufgeregt. Als er ins Freie stolperte, war der SUV im Nebel verschwunden.
»Sam«, sagte sein Onkel, »was hältst du davon, wenn wir morgen …«
»Nein, nicht morgen, jetzt sofort!«
»… Frau Kirchberger besuchen?«
Entgeistert machte Sam einen Schritt zurück. Er würde der alten Hexe nie wieder gegenübertreten. Nicht nach dem, was er im Wald gesehen hatte.
Sein Onkel lächelte. »Dann wirst du sehen, dass sie nur eine harmlose Frau ist, vor der du keine Angst haben musst.«
»Nein, nein … Sie hat Lisa …«
»Sam!«
»… in den Wald …«
»Schluss jetzt!«, unterbrach Frank ihn. »Jetzt drehst du langsam völlig durch.« Er packte Sam an den Schultern und hielt ihn fest. »Es mag ja sein, dass du Angst vor Frau Kirchberger hast, aber deswegen darfst du uns nicht so einen Schrecken einjagen. Was glaubst du, wie groß unsere Angst war, als du plötzlich verschwunden warst? Das war sehr rücksichtslos von dir.«
»Ihr hättet mich doch niemals …«
»Nein, selbstverständlich nicht. Nicht um diese Zeit.«
»Aber ich hab’ …«
»Nein, kein Aber mehr, Sam. Du kannst froh sein, dass deine Mutter von deiner Eskapade nichts mitbekommen hat.«
»Und wo ist Mama?«
Sein Onkel seufzte. »So wie ich die Sache beurteile, macht sie sich verrückt. Genauso wie du. Schau, da kommt sie schon.« Mit einer knappen Kopfbewegung wies er hinüber zum Dorfplatz. Ein schwarzer Geländewagen fuhr über die Dorfstraße. Als er vorüber war, überquerte Sams Mutter die Straße. »Besser du gehst jetzt schnell wieder mit Tante Renate hinüber, bevor dich deine Mutter in diesem Zustand sieht. Du siehst nämlich fürchterlich aus.«
Sam blickte an sich herab. Sein Pullover war an vielen Stellen zerrissen und übersät mit Zweigen und Laub. Seine Hose war mit Lehm und Moos verschmiert. Jetzt spürte er auch die Schrammen in seinem Gesicht. Seine Wangen brannten. »Und jetzt ab ins Bett«, befahl sein Onkel. »Und zwar ohne Widerrede!«
Kapitel 33
Am Morgen nach meiner Hochzeitsnacht erwachte ich vom Knattern des Wartburgs, mit dem Ferdinand aus der Einfahrt zurücksetzte. Nachdem das Motorengeräusch verklungen war, drang nur noch Vogelgezwitscher durch das offene Fenster ins Schlafzimmer. Dann bellte ein Hund. Irgendwo schnatterten zwei Nachbarsfrauen. Es waren die gleichen Dorfgeräusche wie jeden Tag. Dennoch kamen sie mir anders vor, fast schon fremdartig.
Wahrscheinlich , sagte ich mir, gehört dies dazu, wenn man in einem anderen Bett, einem fremden Haus, einem neuen Leben erwacht. Trotzdem fühlte ich mich verloren und allein. Den ersten Tag als verheiratete Frau hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt. Ich hätte nicht einmal sagen können, wie genau. Aber eben anders.
Ich musste an die Reise nach Bulgarien ans Schwarze Meer denken, die wir hatten unternehmen wollen, in die Datsche von Ferdinands Eltern, an den Strand.
Ich zwang mich, an etwas anderes zu denken, bevor ich trübsinnig wurde. Ferdinand hatte mir einen triftigen Grund genannt, weshalb er die Flitterwochen hatte verschieben müssen. Ihm deswegen gram zu sein, dabei wäre ich mir rücksichtslos und undankbar vorgekommen.
Vor dem Kleiderschrank entdeckte ich meine Tasche. Ferdinand musste sie aus dem Auto geholt haben, während ich noch geschlafen hatte. Ich räumte meine Unterwäsche, Strümpfe, Kleider und Jacken in den Schrank, in dem Ferdinand ein Eckchen für mich freigeräumt hatte. Danach ging ich duschen, kleidete mich an und erkundete bei einem Rundgang mein neues Zuhause.
Neben dem Bad und dem Schlafzimmer fand ich im oberen Stockwerk zwei weitere Zimmer. Eines hatte Ferdinand sich als Büro eingerichtet, das andere stand leer. Im Erdgeschoss ging vom Flur die große Wohnstube ab. Vergoldete Bilderrahmen, Mahagonimöbel und Brokat ließen keinen Zweifel daran, dass Ferdinand Geschmack besaß. Er war außerdem ein sehr reinlicher Mensch. Nirgendwo stieß ich auf Staub. Ich fragte mich, ob er selbst die Räume sauber
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