Die Mädchenwiese
hatte. Das zweistöckige Kinderheim, vor dem er stand, lag im Schatten trostloser Plattenbauten. Eine Bahnlinie zerteilte die Altglienicker Wohnsilos in zwei Hälften, an denen außerdem die A113 zum Flughafen Schönefeld vorbeiführte.
Mit dröhnenden Turbinen setzte eine Boeing zum Landeanflug über dem verlassenen Gebäude an. Dessen Dach war eingestürzt. Verkohlte Balken ragten aus den Trümmern wie überdimensionale Mikadostäbchen. Der Rest des Kinderheims wirkte, zumindest von außen, unversehrt. Nur im oberen Stockwerk, dort wo Flammen aus Fenstern geschlagen waren, war die Fassade rußgeschwärzt.
Alex spähte in eines der Zimmer im Erdgeschoss. Drinnen regte sich nichts. Die Eingangstür war aus den Angeln gesprengt. Vermutlich von jugendlichen Rabauken, die sich nachts Zutritt zu dem verlassenen Haus verschafft hatten. Alex verdrückte den Rest seines Sandwichs und betrat das Gebäude. In der Lobby gab es kaum Brandschäden. Allerdings war beim Feuerwehreinsatz ein Großteil des Mobiliars zu Bruch gegangen, der Spiegel neben der Garderobe von einem Dutzend Risse überzogen. Die Holzdielen waren vom Löschwasser aufgeschwemmt und knarzten unter Alex’ Schuhen.
Gizmo behielt die Nase am Fußboden. So viele neue Eindrücke, dass er gar nicht wusste, was er zuerst beschnüffeln sollte. Alex fühlte sich ähnlich überfordert. Er wusste nicht, wonach er Ausschau halten sollte. Doch er war überzeugt, dass er sich aus gutem Grund hier befand.
Die Büros der Direktion und der Pfleger im Erdgeschoss waren geräumt, die Schreibtische und Aktenregale leer. Anders die Räume der Kinder in den Obergeschossen. Die Betten waren zum Teil noch bezogen. Stühle lagen kreuz und quer am Boden verteilt, dazwischen immer wieder verkohlte Überreste. Nichts, was Alex in irgendeiner Form weiterhalf.
Er hob einen Teddybären auf, dem ein Knopfauge fehlte. Das Kuscheltier erinnerte ihn an sein eigenes Spielzeug, das er als Kind mit sich herumgeschleppt hatte. Er fragte sich, ob er selbst als kleiner Junge in diesem Kinderheim gewesen war, kurz bevor seine Eltern ihn adoptiert hatten. Falls es stimmte, was der vermeintliche Arthur Steinmann geschrieben hatte, dann war Alex zum Zeitpunkt der Adoption wenige Monate alt gewesen. Viel zu jung, um sich bewusst daran zu erinnern.
Nachdem er die beiden oberen Stockwerke ergebnislos durchsucht hatte, nahm er sich den Keller vor. Gizmo rannte die Stufen voraus. Sie gelangten in einen langen Korridor. Alle Türen, die nach rechts und links führten, waren verschlossen. Nur die Tür am Ende des Ganges stand weit offen. Als erwartete man sie beide. Tageslicht fiel aus dem Zimmer in den Flur.
Je näher Alex dem Raum kam, umso mehr wuchs sein Unbehagen. Doch der Retriever trabte unbeschwert neben ihm her, schnupperte neugierig, witterte keinerlei Gefahr.
Alex hingegen war auf der Hut. Doch er fand das Zimmer verlassen vor. Niemand wartete. Tageslicht fiel durch Fensternischen knapp unter der Decke auf ein paar Sofas, einen alten Tisch und Regale. Alex befand sich in einer Art Aufenthaltsraum. Unter das Dröhnen einer weiteren Boeing mischte sich Alex’ Handyläuten. Er nahm den Anruf entgegen. »Lindner.«
» Fielmeister’s , Kastner hier, guten Tag.«
»Hallo.« Alex wandte sich zurück zum Korridor.
»Ich hätte da noch eine Frage bezüglich unseres Vertrags …«
Alex stutzte. Er drehte sich wieder um.
»… die wir kurz klären müssten und …«
An die Wände waren Poster geklebt. Von Filmen wie Triple X oder Batman und der TV -Serie Family Guy . Von Stars wie Jay-Z, Eminem, Justin Bieber. Dazu eine Vielzahl Graffiti.
»… es wäre für uns natürlich kein Problem, aber …«
Manche waren sogar witzig. Friss meine Shorts. Andere der übliche Mist. ACAB … Patty is eine Votze.
»… wenn es Ihnen also nichts ausmacht …«
Zwischen einem Poster von Take That und einer obszönen Schmiererei, Wilst du fikken? , prangten in kleinen Lettern drei weitere Wörter.
Sieh die Mädchenwiese!
»… wäre das in Ihrem Sinne?«
Etwas knarrte, gleichzeitig fing Gizmo an zu knurren. Über ihnen, in der Eingangslobby, schritt jemand auf den Holzdielen. Alex kappte das Telefonat und schaltete sein Handy aus. Es knarrte erneut.
Sam konnte sich nicht bewegen, stand regungslos am Rand der kleinen Lichtung. Die Stimme seiner Mutter hallte durch seinen Verstand: Was ist denn das für ein Unsinn!
Die Sonne kam zwischen den Wolken hervor, stand aber schon so tief, dass das
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