Die Mädchenwiese
an den Sattelschleppern vorbei, fuhr auf der Autobahn davon. Mit Erschrecken bemerkte Alex, wie der vordere der beiden Trucks auf eine andere Spur übersetzte – genau vor die Motorhaube des Peugeot.
Alex stieg auf die Bremse und riss das Lenkrad nach rechts. Blech schepperte, als er gegen die Leitplanke fuhr. Dann stand der Wagen still.
Alex keuchte. Er spürte sein Herz pochen, und der Puls rauschte wie ein Sturm in seinen Ohren. Trotzdem blieb er ein paar Minuten still sitzen. Er warf einen Blick in den Rückspiegel. Eine Beule färbte seine Stirn dunkelrot, an der Stelle, an der das Holzscheit ihn erwischt hatte. Alex ließ den Motor an und fuhr weiter. Etwas klapperte vorne auf der rechten Seite, vielleicht die Stoßstange oder der Kotflügel. Das Geräusch wurde lauter, je mehr der Peugeot an Geschwindigkeit gewann. Aber der Wagen ließ sich steuern. Alex fuhr von der Autobahn ab und schließlich auf der anderen Seite wieder hinauf.
So schnell sie konnte, streifte Laura Jeans und Bluse über. In der Diele steckte sie ihre Füße in die erstbesten Schuhe, die sie fand, und stürzte nach draußen. Schon im Vorgarten trug der Wind ihr das Schluchzen ihres Sohnes entgegen.
»Mama! Mama! Im Wald …« Tränen erstickten seine Worte.
Was hast du im Wald zu suchen? , schoss es ihr durch den Kopf.
»Ich hab’ …« Sam geriet ins Straucheln, stolperte in Lauras Arme. »… hab’ sie gefunden!«
Ein Murren ging durch die Reihen der umstehenden Journalisten. Fotoapparate klickten. Laura wollte ihnen sagen, dass sie damit aufhören sollten. Dass sie verschwinden sollten. Sie drückte Sam an sich. »Wen hast du gefunden?«
Er weinte nur. Und Laura war sich gar nicht mehr so sicher, ob sie die Antwort überhaupt hören wollte. »Sam, du hast dich geirrt«, sagte sie.
Seine Haare flogen wild umher, als er den Kopf schüttelte.
»Komm, wir gehen gemeinsam nachschauen. Und dann wirst du sehen …«
Mit einem Schreckensschrei riss er sich von ihr los. Noch mehr Tränen quollen aus seinen Augen.
»Sam, du musst mir zeigen, was du gesehen hast.«
»Laura, bleib hier«, mahnte ihre Schwägerin.
Doch Laura nahm die Hand ihres Sohnes und zog ihn von den Reportern fort. Sie nahm kaum das Polizeifahrzeug wahr, das am Bordstein bremste. Frank und zwei Beamte sprangen ins Freie. Ihr Schwager wechselte einige Worte mit seiner Frau.
»Laura!«, rief er.
Laura rannte bereits mit Sam in den Wald. Journalisten folgten ihr.
»Wohin?«, keuchte Laura.
Sam sträubte sich, doch sie schob ihn vorwärts. Als sie den alten Grillplatz erreichten, blieb er stehen. Mit seinen kleinen Fingern zeigte er zwischen die Bäume. Auf einen Trampelpfad, der in dem dichten Gehölz kaum als solcher auszumachen war.
»Laura, bleib stehen!«
Sie nahm Sam auf den Arm, lief weiter. Zweige peitschten ihr ins Gesicht. Unvermittelt erstreckte sich vor ihr eine Lichtung. Sie sah einen kleinen Hügel. Sorgsam bedeckt mit Tannenzweigen. Ein blutiger Armstumpf ragte daraus hervor. Laura schluchzte auf.
»Sam!« Sie setzte ihren Sohn ab. »Bleib hier!« Sie rannte auf das Grab zu.
»Laura!« Franks Schrei ging in dem Geräusch klickender Objektive unter.
Laura fegte das hölzerne Leichentuch beiseite. Der blasse Körper einer jungen Frau kam zum Vorschein. Der Anblick war grauenvoll. Und doch lachte Laura erleichtert auf.
Als er wieder vor dem Kinderheim stand, legte Alex seinen Kopf auf das Lenkrad. Die schmerzende Stirn war willkommene Ablenkung. Eine Weile saß er so da, doch ewig ließ sich das Unvermeidliche nicht aufschieben. Mit jedem Schritt, den er sich dem Gebäude näherte, wurden seine Beine schwerer. Als er endlich vor dem toten Retriever stand, drängte sich der Geschmack von Schinken und Plastik seinen Hals hinauf.
Gizmo lag unverändert, die Augen einen Spalt geöffnet, ihr Glanz erloschen, die Lefzen zu einem letzten Atemzug hochgezogen. In seiner Brust stak das Holzscheit. Unter ihm begann das Blut bereits zu trocknen.
Alex würgte den Sandwichgeschmack hinunter, ging neben dem Retriever in die Knie. Behutsam, als könnte er ihn bei der geringsten Berührung aufschrecken, strich er durch das Fell. Der Hundekörper fühlte sich noch warm an, als wären seit seinem Tod nur wenige Sekunden vergangen, nicht eine halbe Stunde.
Alex streckte die Hände nach dem widerlichen Pfahl aus. Dieser hatte den Retriever fast durchbohrt und an die Dielenbretter genagelt. Als Alex den Hund davon befreit hatte, waren seine Hände und
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