Die Maenner vom Meer - Roman
vermutlich nicht länger gezögert, ihn als Hexer zu verbrennen.
Am nächsten Morgen ließ die Wache zwanzig Nomaden durch das Westtor ein. Mehr als die Hälfte von ihnen waren Frauen und Kinder. Die Frauen trugen Röcke aus zottigem Fell, von den Hüften aufwärts waren sie nackt. Da Bue den Bewohnern der Stadt befohlen hatte, in ihren Häusern zu bleiben, waren die Straßen leer. Nur im Hafen waren einige Händler damit beschäftigt, ihre Schiffe zu beladen. Als weitgereiste Männer wußten sie, daß Nomaden das Wasser scheuen und ihnen somit die Möglichkeit blieb, sich selbst und ihre Habe auf dem Seeweg in Sicherheit zu bringen. Unter ihnen war auch Gilli, den man den Russen nannte, einer der größten Sklavenhändler jener Zeit. Von ihm wird später noch zu berichten sein.
Eine für die Tageszeit ungewöhnliche Stille breitete sich in der Stadt aus; selbst aus den Werkstätten der Handwerker drang kein Geräusch hervor. Die Bewohner spähten durch die Türschlitze auf die Straße hinaus, sie hielten den Atem an, wenn die Nomaden vorübergingen, lauschten dem Klatschen ihrer nackten Füße auf dem Bohlenweg. Eine der Frauen blieb vor Swains Haus stehen, hob ihren Rock empor, hockte sich nieder und ließ ihr Wasser. Björn sah den gelben Strahl zwischen ihren Schenkeln hervorschießen, und als er seine Augen wieder auf ihr Gesicht richtete, begegnete er ihrem Blick. Sie öffnete den Mund und leckte ihre Lippen. Björn spürte, wie ihn beim Anblick der langsam kreisenden Zungenspitze ein Frösteln überlief.
Plötzlich war aus dem oberen Teil der Stadt Geschrei zu hören.Zwei der Nomadenkinder waren, ein Huhn verfolgend, in Vagns Hütte eingedrungen und mit Vagns Frau in Streit geraten, weil diese nicht geneigt war, ihnen das Huhn freiwillig auszuliefern. Als Vagn in das Handgemenge eingriff, begannen die beiden Kinder laut zu schreien, worauf die gesamte Nomadenschar vor Vagns Behausung zusammenströmte und sich mit Knüppeln bewaffnete, die sie kurzerhand aus dem Flechtwerk der Hauswand gebrochen hatte.
Wieder war es Poppo, der zu verhindern wußte, daß es zu weiteren Gewalttaten kam. Er sprach beschwichtigend auf die Nomaden ein, ließ währenddessen ein Silberstück vor aller Augen verschwinden, zog es aus Vagns Nase wieder hervor und gab es Vagns Frau mit der Versicherung, daß er nur um des lieben Friedens willen bereit sei, einen derart hohen Preis für ein halbtotes Huhn zu zahlen. Vagns Frau zwängte das Silberstück zwischen ihre Backenzähne, denn andere besaß sie nicht mehr, und nachdem sie sich auf diese Weise von seiner Echtheit überzeugt hatte, überließ sie das Huhn den Nomadenkindern. Diese rissen ihm sogleich die Federn aus und gruben ihre Zähne in das zuckende Fleisch.
Nun erschien Bue der Dicke mit seinem Gefolge und hinter diesem die halbe Einwohnerschaft der Stadt. Poppo berichtete ihm, was geschehen war, und Bue tadelte Vagns Frau, weil sie es wegen eines armseligen Huhns zu einem Streit mit den Wilden hatte kommen lassen. Denn diese, sagte er, sich an alle wendend, seien Gäste in der Stadt und demzufolge mit dem Entgegenkommen zu behandeln, auf das sie als solche Anspruch hätten. Seine Gefolgsleute rasselten beifällig mit den Waffen, aber Vagn trat vor und meinte, ein Huhn sei gewiß kein Anlaß, die Regeln der Gastfreundschaft außer acht zu lassen, doch erlaube er sich die Frage, ob man den Wilden auch gestatten sollte, Löcher in die Häuser zu reißen, und ob, falls Bue dies aus wohlerwogenen Gründen bejahe, nicht eine Entschädigung aus der königlichen Schatztruhe angebracht sei.
Diese Worte versetzten Bue in hellen Zorn. »Wie kannst du es wagen, mir mit einem solchen Ansinnen zu kommen, du Hundsfott!«schrie er. »Der König besitzt nicht einmal Geld genug, ein Heer aufzustellen, das dem des Graumantels gewachsen ist, und du verlangst von ihm auch noch eine Entschädigung für etwas, was du selbst verschuldet hast! Geh mir aus den Augen, wenn du nicht für diese Unverschämtheit ausgepeitscht werden willst!« Danach wandte er sein Pferd und nickte den Nomaden im Vorüberreiten lächelnd zu, damit diese nicht glaubten, sein Zorn habe ihnen gegolten.
An den folgenden Tagen geschah wenig, über das sich zu berichten lohnt. Die Bewohner der Stadt trauten sich nach und nach wieder auf die Straßen, und schon bald schenkten sie den Nomaden kaum größere Beachtung als den übrigen Fremden, die dem Handelsplatz während der Sommerzeit sein buntes Gepräge gaben. Die Stadt
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