Die Maenner vom Meer - Roman
ihnen weder, sie einzuholen, noch auch nur festzustellen, in welche Richtung sie gezogen waren.
Als es endlich zu regnen aufhörte und die Sonne, zum ersten Mal seit Wochen, durch die Wolken brach, bewies die Stadt, die schon so oft durch Menschenhand oder Naturgewalten zerstört worden war, erneut ihre Fähigkeit, binnen kurzem wieder zu blühendem Leben zu erwachen. Bald kehrten auch die Kaufleute zurück, und über die alten Handelswege strömten Menschen und Waren herbei.
Auf Geheiß des mittlerweile wieder zu Kräften gelangten Bue kamen die Stadtbewohner nun Tag für Tag in großer Zahl vor dem Haus des Königs zusammen und baten, daß Harald sich ihnen zeigenmöge. Der König erfüllte ihren Wunsch nicht sogleich, damit allen deutlich werde, wie tief seine Verbitterung saß. Aber dann erschien er mit seiner Frau, seinem Sohn und Bue dem Dicken vor der Tür und labte sich am Jubel seiner Untertanen. Björn sah, daß der König kleiner war, als er ihn sich vorgestellt hatte, und daß es ihm Mühe bereitete, seinen Körper in eine straffe Haltung zu bringen, denn Harald war, neben mancherlei anderen Gebrechen, auch von der Gicht geplagt.
Ohne daß der König es bemerkte, machte Bue dem Volk Zeichen, seiner Dankbarkeit noch vernehmlicher Ausdruck zu verleihen. Nun steigerte sich der Jubel zu einem ohrenbetäubenden Geschrei, und dem König schien dies zu gefallen; er entblößte lächelnd seinen einzigen Zahn, der unterhalb der Nase aus dem Kiefer ragte und ihm wegen seiner ungewöhnlichen Färbung den Beinamen ›Blauzahn‹ eingetragen hatte. Als jetzt auch noch der Wikgraf vor den König trat und ihn der immerwährenden Dankbarkeit aller Einwohner versicherte, schwanden die letzten Spuren des Unmuts aus Haralds Gesicht, und indem er nicht ohne Anstrengung eine Hand hob und sie auf die Schulter des Wikgrafen legte, sagte er: »Deine Worte erwärmen mein altes Herz, Verwandter.« Und als, auf einen Wink von Bue hin, Ruhe eingetreten war, sprach er zu den Stadtbewohnern: »Bittet eure Götter, welche es auch seien, daß ihr euch noch lange des Glücks erfreuen mögt, mich zum König zu haben.« Dem fügen wir hinzu, daß Harald Blauzahn zu jener Zeit bereits vierundvierzig Jahre zählte und ihn daher häufig die Sorge beschlich, jeder Tag könne sein letzter sein.
Nachdem Swain, reichlich mit Wegzehrung und Werkzeug versehen, vor der Stadt begraben worden war, bewohnte Björn eine Zeitlang allein das Haus des Kammachers. Er saß nun auf Swains Platz und schnitzte an einem Kamm, der für Bischof Horath bestimmt war. Manchmal schaute Poppo herein, blickte Björn über die Schulter und meinte, daß hier ein Schmuckstück entstünde, das schon im halbfertigen Zustand seinesgleichen suche. Und einmal, als ermit rotem Kopf und Bierdunst verströmend die Werkstatt betrat, sagte er: »Mein ehrwürdiger Herr läßt fragen, wann er den Kamm bekommt; ihm ist berichtet worden, daß sich die Kaiserin neuerdings nicht mehr seines Namens entsinnt.« Und schmunzelnd fügte er hinzu: »Aber verliere deswegen nicht die Geduld, mein Sohn. Sogar der Allmächtige ließ sich, obwohl er es in einem Atemzug vermocht hätte, sechs Tage Zeit, die Welt zu erschaffen.«
Eines frühen Morgens wurde Björn dadurch geweckt, daß jemand den Holzfußboden in der Werkstatt aufbrach. Er sprang aus dem Bett und sah, daß es Gerlög war, Swains Witwe, die ihren Mann einst wegen seines Geizes verlassen hatte. Sie war gekommen, um sich die unermeßlichen Schätze anzueignen, die Swain unter dem Fußboden versteckt haben sollte. Doch so emsig sie auch suchte: Außer einigen Knochenspänen fand sie nichts. Als sie sich nun aber aufrichtete, fiel ihr Blick auf Björn und blieb lange an ihm haften. Er war jetzt neunzehn Jahre alt, und obwohl er immer noch klein und schmächtig war, schien Gerlög Gefallen an ihm zu finden. So kam es, daß sie in das Haus zurückkehrte, das sie viele Jahre gemeinsam mit Swain bewohnt hatte, und Björn auch darin Swains Nachfolge antrat, daß er Tisch und Bett mit ihr teilte.
Wenn Björn während der Arbeit an den Augenblick dachte, da er sein Werk vollendet haben würde, hatte ihn dies stets in freudige Erregung versetzt. Nun aber, als er Björn machte diesen Kamm unter die kunstvollen Verzierungen ritzte, verspürte er ein Gefühl der Leere. Er sah, daß er ein Meisterwerk geschaffen hatte, aber die Freude, die er während der Arbeit empfunden hatte, war verflogen.
Er wusch sich, streifte einen sauberen Kittel
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