Die Maenner vom Meer - Roman
deutete.
»Siehst du sie auch?« flüsterte er.
»Laß uns weitergehen«, sagte Björn, ohne zu fragen, wen er meinte.
Schließlich fanden sie, wonach Thormod offenbar gesucht hatte: eine Bucht, die einen schiffbaren Zugang zum Meer besaß und zugleich Schutz vor Wind und Wellen bot. Sie stiegen hinab und kamen im inneren Teil der Bucht zu einem von Treibholz übersäten Sandstrand. Zwischen dem faulenden Holz lag ein Gerippe. Bis auf den Brustkorb war es vom Treibholz zerdrückt worden, so daß zunächst nicht auszumachen war, ob es sich um das Skelett einer Robbe oder eines Menschen handelte. Aber dann fand Hemmo einen Schuh und kurz darauf einen menschlichen Schädel, aus dessen Augenhöhlen trockener Tang hervorringelte. Alle wußten, daß ein Ort, an dem ein unbestatteter Leichnam lag, von bösen Geistern bewohnt wurde und daß es Unglück brachte, an ihm zu verweilen. Doch Thormod war nicht geneigt, den Geistern einen Platz zu überlassen, der ihm für sein Vorhaben günstig erschien; er ließ die Gebeine des Toten nahe am Felssockel im Sand verscharren.
Abends erläuterte er den Männern seinen Plan: Sobald es das Wetter zuließe, würden sie das Schiff in seine Bestandteile zerlegen, diese einzeln in die Bucht schaffen und dort wieder zusammensetzen.Nachdem dies geschehen sei, gelte es nur noch, darauf zu warten, daß das Eis zurückweiche, um von jener Bucht aus die Weiterfahrt anzutreten.
»Da du, wie es scheint, an Wunder glaubst, Thormod«, sagte Egbert, »weshalb ersparst du uns nicht die Mühe und bittest Gott, daß er uns Flügel wachsen läßt, damit wir auf geradem Weg nach Süden fliegen können?«
»Wenn ich nicht jeden Mann brauchte, würde ich dir jetzt mit einem glühenden Holzscheit dein Mundwerk stopfen«, entgegnete Thormod grimmig.
»Auf mich und ein paar andere wirst du ohnehin verzichten müssen«, sagte Egbert. »Wir haben beschlossen, uns soviel von den Vorräten zu nehmen, wie uns zusteht, und uns in bewohnte Gegenden durchzuschlagen.«
»Du würdest anders reden, wenn du heute mit uns dort oben gewesen wärst«, sagte Torkel Hakenlachs. »Falls ihr nicht vorher in eine Schlucht gestürzt seid, werdet ihr entweder erfrieren oder verhungern.«
»Ein Dach über dem Kopf zu haben macht noch nicht satt«, sagte Vagn, der damit zu erkennen gab, daß er auf Egberts Seite stand.
»Sieh dir Karhus Jagdbeute an und sag mir, warum du glaubst, daß wir hier sicherer vor dem Hungertod sind als woanders«, wandte sich Egbert an Thormod.
»Wir haben Robben gesehen«, sagte Thormod zu den anderen, denn von nun an sprach er nicht mehr mit Egbert.
»Nach den Walen sind die Robben die schlauesten Meerestiere«, ließ sich nun Bjarki Fleischsuppe vernehmen. »Als ich vor Jahren oben auf Svalbard war, das soweit nördlich liegt, daß man die gefrorenen Nebelwolken von Niflheim sehen kann, lockten uns die Robben auf dünnes Eis, so daß wir allesamt einbrachen und uns nur mit knapper Not auf eine glatte, seltsam geformte Insel retten konnten. Hört nun, daß diese Insel gar keine Insel war, sondern der Rücken eines –«
»Ich hindere niemanden daran zu gehen, wohin er will«, unterbrach Thormod Bjarkis Redefluß. »Aber ich weigere mich, jemanden, dessen Tod gewiß ist, mit Wegzehrung auszustatten.« Nun wandte er sich an Hemmo und sagte: »Du wirst Egberts Anteil bekommen, wenn du dafür sorgst, daß sich keiner an unseren Vorräten vergreift.«
»Komm und hol dir was«, sagte Hemmo zu Egbert und setzte sich, die Axt griffbereit zwischen seinen Knien, auf den Fellsack, der alles barg, was sie noch an Nahrungsmitteln besaßen. Thormod zog sein Schwert und legte es neben sich, um Hemmo, falls es erforderlich werden sollte, zu Hilfe zu kommen.
Darauf verließen Egbert, Vagn, Olaf Dorschbeißer, Ketil Nase, Tosti Einauge sowie zwei weitere Männer das Schiffshaus und beratschlagten draußen mit gedämpften Stimmen. Als sie wieder hereinkamen, sagte Egbert zu Thormod: »Wir werden morgen aufbrechen, mit oder ohne Verpflegung.«
Thormod hob die Schultern und blickte gleichmütig ins Feuer.
Am nächsten Morgen stiegen sie nacheinander die Strickleiter empor, als erster Egbert, dann die anderen, zuletzt Vagn. Björn sah, wie er ächzend und schnaufend und immer wieder vor Erschöpfung verharrend eine Sprosse nach der anderen erklomm. Er verspürte ein schwach aufkeimendes Gefühl der Erleichterung: Jetzt würde es nicht seine Hand sein, die Vagn den Tod brachte. Zugleich aber fühlte er sich um
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