Die Maenner vom Meer - Roman
tagsüber saß und nachts schlief, wurde mit jeder Mahlzeit schlaffer.
Eines Tages versammelte Thormod die Männer um sich und sagte: »Bislang habe ich euch durchgefüttert, jetzt werdet ihr selbst für euren Lebensunterhalt sorgen müssen.« Er teilte die Mannschaft in zwei Gruppen ein; der einen befahl er, jeden Fußbreit der Felswüste nach eßbarem Getier, sei es tot oder lebendig, abzusuchen;mit der anderen, zu der wiederum Björn gehörte, machte er sich auf den Weg nach der Bucht, um von dort aus Robben zu jagen. Diesmal duldete er es nicht, daß einer im Schiffshaus zurückblieb; deshalb mußte sich auch Vagn an der schwankenden Strickleiter emporquälen.
Am Abend kehrten sie mit leeren Händen in die Hütte zurück. So war es auch am zweiten und dritten Abend. Vagn spuckte einen seiner Zähne ins Feuer und schwor, er werde nie wieder seinen Fuß auf die Strickleiter setzen, denn es werde sein Tod sein, wenn er diese ein weiteres Mal erklimmen müsse. Als er sich am nächsten Morgen tatsächlich weigerte, ließ ihm Thormod ein Tau um den Körper schlingen und ihn wie einen Sack aus dem Trichter ziehen. Dies führte dazu, daß sie am Abend des vierten Tages reichlich zu essen bekamen, denn es war Vagn, der vor Erschöpfung ins Straucheln geriet, einen Abhang hinunterrollte und durch sein lautes Gezeter einen Bären aus dem Winterschlaf weckte. Karhu erlegte das vom Schlaf benommene Tier, indem er auf seinen Rücken sprang und ihm sein Messer in den Nacken stieß.
Zum letzten Mal für lange Zeit konnten sie sich satt essen. Denn das Unwetter, das Egbert und seine Gefährten zur Umkehr gezwungen hatte, war nur ein Vorbote des Winters gewesen. Nun tobten Tag für Tag Schneestürme über den Trichter und hielten sie in ihrer schwankenden Hütte gefangen. Der Winter drang von allen Seiten auf sie ein; es war, als ob er von der Belagerung zum Angriff übergegangen sei.
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SO BEREITWILLIG ER SPÄTER von dieser Fahrt erzählte, so verschlossen gab sich Björn, wenn er gefragt wurde, wie sie den Winter überlebt hatten. Im nachhinein, pflegte er zu sagen, komme es ihm vor, als habe er die Zeit im Halbschlaf verbracht; es falle ihm schwer zu unterscheiden, welche seiner Erinnerungen an diesen Winter er geträumt habe und welche wahr seien. Der Hunger habe sich auf seltsame Weise seiner Sinne bemächtigt, indem er Wirkliches verschleiert und Hirngespinste mit handfester Körperlichkeit ausgestattet habe. So sei ihm des öfteren die Zauberin erschienen, die Thormod getötet hatte, sie habe sogar neben ihm am Feuer gesessen, und einmal, erinnere er sich, habe er ihre hellgrünen Augen gesehen. Eines Tages sei Ketil Nase gestorben, nachdem man ihm zuerst die erfrorenen Zehen, dann den Fuß und bald darauf auch das Bein abgeschnitten habe. Um nicht den Gestank seines verwesenden Körpers ertragen zu müssen, habe man ihn aus dem Trichter gehievt und in eine Felsschlucht geworfen. Andererseits könne er beschwören, daß Ketil, und zwar zweibeinig, geholfen habe, das in seine Einzelteile zerlegte Schiff aus dem Trichter in die Bucht zu schaffen. Nun habe sich ersteres noch zu Beginn des Winters zugetragen, letzteres an seinem Ende, demnach könne eines von beidem nicht der Wahrheit entsprechen, wolle man nicht in Betracht ziehen, daß der arbeitende Ketil sein eigener Wiedergänger gewesen sei. Nein, man möge nicht weiter in ihn dringen; er könne nur mitwenigen, zudem noch widersprüchlichen Erinnerungen an diesen schrecklichen Winter aufwarten, und man möge sich damit zufriedengeben, daß er ihn nahezu unversehrt, wenn auch zum Skelett abgemagert, überstanden habe.
Es dauerte Wochen, bis die entkräfteten Männer das Schiff wieder zusammengesetzt hatten. Während dieser Zeit schliefen sie unter freiem Himmel, und wenn es über Nacht geschneit hatte, ähnelte ihre Schlafstätte morgens einer Ansammlung flacher, schneebedeckter Grabhügel. Wie üblich zu zweit in ihren Fellsäcken liegend, drängten sie ihre stinkenden Körper so nahe wie möglich aneinander, hielten sie sich wie Liebespaare umschlungen, damit nichts von der Wärme verlorengehe, die ihnen noch geblieben war.
Die Sonnenstrahlen tasteten sich von Tag zu Tag ein Stück tiefer an der Felswand herab, und eines Mittags füllten sie die Bucht mit gleißendem Licht. Die Männer verharrten eine Weile in blinder Reglosigkeit. Es war, als habe eine Schar nächtlicher Schatten, vom Tageslicht überrascht, unfreiwillig menschliche Gestalt angenommen. Ihre
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