Die Magd von Fairbourne Hall
anders entscheiden konnte. Das ängstliche, egoistische Kind in ihr hätte am liebsten Joans Hand genommen und sie angefleht, sie nicht alleinzulassen oder die Matrone noch einmal zu bitten, sie doch beide einzustellen, einfach die ganze verzwickte Situation zu gestehen und um Hilfe zu bitten. Doch sie wusste, dass ihr Schicksal der Frau gleichgültig war und dass sie wahrscheinlich keine von ihnen einstellen würde, wenn sie wusste, wer sie waren. Margaret war schon dafür verantwortlich, dass Joan entlassen worden war und dass sie ihre Schwester wieder verlassen musste, bevor sie eine neue Stellung gefunden hatte, sie durfte sie auf keinen Fall um diese Stellung bringen, so groß die Versuchung auch sein mochte.
Joan sah sie fragend an und flüsterte: »Sind Sie ganz sicher, Miss?«
Margarets Knie unter dem weiten Rock wurden weich. Angst und Zweifel stiegen in ihr auf, doch sie nickte und entblößte die Zähne in dem schwachen Versuch zu lächeln.
»Komm schon, Hurdle«, sagte die Frau. »Ich muss noch beim Krämer vorbei, bevor wir nach Hause fahren. Du kannst den Sack Reis tragen, den wir brauchen.«
Joan folgte der Frau pflichtbewusst; ihr Koffer schwang gegen ihre Beine. Sie blickte sich nur ein einziges Mal um; ihre Lippen formulierten ein stummes »Es tut mir leid«.
Margarets Herz zog sich vor Selbstmitleid zusammen, doch gleich darauf schämte sie sich. Sie hatte sich nie bei Joan dafür entschuldigt, dass sie sie in diese Situation gebracht hatte, und jetzt entschuldigte Joan sich bei ihr? Wenn sie das Mädchen je wiedersehen sollte, beschloss sie, würde sie alles wiedergutmachen.
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
6
Junge Menschen sollten sich bei ihrem ersten Eintreten in ein Dienstverhältnis bemühen, frühere Gewohnheiten abzulegen und sich ganz und gar denjenigen unterordnen, denen sie dienen werden.
Samuel und Sarah Adams, The Complete Servant
Irgendwann stieß die stoische Köchin einen Seufzer aus, hob ihre kräftigen Beine über das Seil und schlurfte die gepflasterte Straße hinunter. Dann steckte der alte Mann sein Messer in die Scheide und stand auf.
»Geh auch nach Hause, Mädchen«, sagte er.
Nach Hause . Dorthin konnte Margaret nicht zurückkehren, selbst wenn sie gewollt hätte. Aber genau genommen empfand sie Sterling Bentons Haus auch gar nicht als ihr Zuhause. Ihr eigentliches Zuhause war das Zuhause ihrer Kindheit. Allein der Name – Lime Tree Lodge – weckte eine schmerzliche Sehnsucht in ihr, Erinnerungen an herrliche Düfte und liebevolle Umarmungen, an Lachen, gemeinsame Ausritte und Zuneigung. Ob sie wohl jemals wieder ein richtiges Zuhause haben würde? Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, und blinzelte sie fort. Natürlich würde sie das. Sie würde die nächsten drei Monate überleben und dann ihr Erbe antreten.
Dann würde sie sich ein eigenes Haus kaufen – vielleicht sogar Lime Tree Lodge, falls es zum Verkauf stand, und ihre Schwester und ihren Bruder zu sich nehmen, sobald die beiden volljährig waren.
Doch noch während sie das dachte, wusste sie bereits, dass es unrealistisch war. Ihre Schwester würde heiraten. Ihr Bruder würde einen Beruf ergreifen und sich eine Frau suchen und selbst eine Familie gründen und sich ein Zuhause schaffen – vielleicht in einem Pfarrhaus, wenn er in den kirchlichen Dienst ging. Dennoch machte der Gedanke an ihre zukünftige Unabhängigkeit ihr Mut. Sie trocknete ihre Tränen.
Um sie herum luden die Bauern die übrig gebliebenen Waren wie der auf ihre Karren. Die letzten Käufer schleppten Körbe zu wartenden Wagen und Kutschen. Margarets Magen protestierte knurrend. Vielleicht schenkte ein Bauer ihr ja einen angeschlagenen Apfel oder ein Fleischerjunge teilte eine übrig gebliebene Pastete mit ihr? Doch danach zu fragen war gleichbedeutend mit Betteln und bei dieser Vorstellung drehte sich ihr der Magen um, sodass der Hunger in den Hintergrund trat. Was sollte sie nun tun? Ihren eigenen Rat befolgen und von Haustür zu Haustür gehen und nach einer Stellung fragen? Oder ein Armenhaus oder eine Kirche suchen, wo sie die Nacht verbringen konnte? Barmherziger Gott, ich weiß, dass ich dich vernachlässigt habe. Ich weiß, dass ich kein Recht habe, dich um Hilfe zu bitten. Aber hilf mir trotzdem, bitte. Bitte, hilf mir.
»Hallo …?«
Margaret blickte erschrocken auf, in das Gesicht eines Mannes, der ein paar Schritte entfernt stand. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass er zu ihr getreten war. Er war von
Weitere Kostenlose Bücher