Die Magie des Falken
bereit!«
Er hatte den Eindruck, dass der Rabe den Kopf schüttelte – oder schüttelte er nur das Gefieder?
»Sag mir, was ich tun muss!«
Doch der Rabe blieb stumm. Im nächsten Augenblick verschmolz er wieder mit der Finsternis.
Kyrrispörr rief im Geiste nach Laggar. Mehr denn je benötigte er jetzt seinen Falken, das Gefühl, nicht allein auf dieser Welt zu sein, sehnte er sich nach Kraft und Entschlossenheit des flinkesten unter den Jägern. Seine Rufe verhallten ungehört.
Erst Hæricr Harekson, dann Eyvindr Kelda, jetzt Jarnskegge, und, merkwürdigerweise noch schmerzvoller, seine Tochter Gurun als Braut des Königs Krähenbein selbst! Kyrrispörr war elend zumute. Ist mir Oinn noch zugeneigt? Oder war stets Loki mein Führer, der eine, der in allen Verkleidungen Meister ist und die Menschen verwirrt? Bin ich es vielleicht, der jedem Unglück bringt, der mir nahe ist? Er sah die kräftige Gestalt der Gurun vor sich. Ihr sonnenblondes Haar wollte ihn blenden. Nie hatte er für sie mehr empfunden als Wohlgefallen und, natürlich, Dankbarkeit, ganz im Gegensatz zu seinen Gefühlen für Æringa. Dennoch traf ihn die Nachricht am härtesten, dass ausgerechnet sie nun mit jenem vermählt worden, der der größte Hassfeind von Kyrrispörr war. Ausgerechnet sie, ausgerechnet mit dem Blutkönig des Kreuzes! Kyrrispörr warf sich herum und kauerte sich eng zusammen. Was konnte er tun? Warum hatte Oins Bote geschwiegen? Hatte Oinn bereits beschlossen, dass er, Kyrrispörr, versagt hatte? Aber was hätte er besser machen sollen? Nicht nach Heiabýr fahren? Dann hatte Gurun ihm den Rat Lokis des Täuschers gegeben. Und er war gerannt wie ein Hase. Und Gurun war zur Strafe verheiratet worden mit Olaf …
Er musste hier weg. Er musste nach Norwegen. Er musste König Olaf aufspüren und töten. Sofort. Für ein Zögern gab es keine Entschuldigung mehr.
Kyrrispörr schlug die Decke hoch und sprang vom Lager. Er hörte das unwillige Murren der anderen Schläfer, tastete nach seinen Kleidern, die jemand ans Fußende des gemeinsamen Schlaflagers gelegt hatte, und schlüpfte so hastig in die Hose, dass er stolperte und beinahe gestürzt wäre. Zum Glück hing sein Mantel an dem angestammten Platz. Anschließend schlug er sich den Kopf an einem Pfosten, griff Pfeilköcher und Bogen, die er im schwachen Schummerlicht des Vorraums am Haken hängen sah, und trat ins Freie.
Die Kälte des frühen Morgens fiel über ihn her. Er wankte ein Stück die Straße hinunter in Richtung Hafen und wurde sich langsam bewusst, dass sein Vorhaben unsinnig war. Ein Mann allein konnte kein Boot steuern, das ihn nach Norwegen trug. Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als zu warten.
Doch an eine Rückkehr ins Langhaus war nicht zu denken. Der Atem hing ihm in Wölkchen vor dem Mund, die Eiseskälte stach ihm in die Fußsohlen, während er unter dem samtschwarzen Sternenhimmel durch das schlafende Heiabýr wankte. Hühner in ihren Ställen gurrten leise im Schlaf. Blau hing der Qualm der letzten Glut über den Häusern. Auf den Wällen war hier und da der Speer eines Wächters zu sehen. Wie von selbst wurden Kyrrispörrs Schritte in Richtung Hafen gelenkt. Fahlgraues Licht kündigte hinter der Einfahrt den nahenden Morgen an und kroch langsam über das Nachtschwarz mit seinen funkelnden Diamanten empor. Das Schiff des Norwegenfahrers lag fest vertäut am Steg, mehrere in Pelze geschlagene Erhöhungen verrieten dösende Wachen. Eine feine Eisschicht hatte sich über Nacht wieder im Hafenbecken gebildet. Es war, als sei die Zeit stehen geblieben. Von der Stadt her rief ein Nachtvogel, und zwei Fledermäuse flatterten ohne einen Laut über Kyrrispörr hinweg. Kyrrispörr atmete tief die eisige Luft ein und hieß das Kältezittern willkommen.
Die ersten Feuer wurden bereits in den Häusern angefacht, als Kyrrispörr sich endlich auf den Rückweg machte. Die Kälte hatte seine Verzweiflung zumindest ein wenig betäubt. Tatsächlich war ihm so kalt, dass er sich kaum noch richtig bewegen konnte. Es dauerte lange, bis seine Zähne unter der Schlafdecke zu klappern aufhörten.
Als er etwas später mit schwummerigem Kopf erneut zum Hafen ging, erfuhr er von den Knechten des Händlers, dass sie nicht vor dem morgigen Tage weiterfahren würden. Es gehe auch nicht nach Norwegen zurück, nein, ihr Herr wolle vielmehr ins Reich der Rus. Aber damit nicht genug: Der Himmel verdunkelte sich im Verlaufe des Vormittags, und es begann zu schneien. Dazu
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