Die Magier 02. Krieger der Dämmerung - Le Serment orphelin (Le Secret de Ji, Bd. 2)
verspräche. Tiere haben eine höhere Moral.«
»Früher hast du das anders gesehen!«
»Stimmt«, sagte er seufzend. »Die Erjaks Arkariens glauben, der Mensch sei die Krone der Schöpfung. Weil er Dinge herstellen kann und Ideen hat … äh … die seine Handlungen lenken …«
»Ideale?«
»Ideale, genau. Und damals glaubte ich, was man mir sagte. Aber jetzt bin ich der Meinung, dass sich die Erjaks irren.«
»Tiere verteidigen ihr Leben«, stimmte Léti ihm mit einem Funkeln in den Augen zu. »Sie kämpfen gegen ihre Feinde, auch wenn der Kampf aussichtslos ist. Das sollte uns eine Lehre sein.«
Bowbaq ließ sich mit der Antwort Zeit. »Ich weiß nicht«, murmelte er schließlich. »Die Erjaks glauben, der Mensch sei dem Tier überlegen, weil er sich in vielen Fällen ohne Gewalt zu behelfen weiß. Vielleicht ist das wahr.«
»Aber die Züu töten uns! Ohne zu zögern! Sollen wir das einfach so hinnehmen?«
»Ich weiß nicht«, sagte der Riese abermals.
Léti war entsetzt. Für sie lag die Antwort auf der Hand. »Dein Löwe Mir würde nicht eine Dezille zögern. Er würde seinen Feind zu Boden werfen und ihm ohne Bedenken die Eingeweide herausreißen.«
Bowbaq schloss die Augen und sah die drei Leichen im Schnee liegen, so klar und deutlich, als wäre alles gerade erst geschehen. Drei Männer waren seinetwegen gestorben, ohne dass er verstand, warum. Drei junge Menschen. In kaum zehn Jahren wäre sein Sohn Prad so alt wie sie. »Ich gebe zu, dass man sein Leben verteidigen muss«, sagte er schließlich. »Aber ich will niemanden töten. Ich kann keinen Menschen töten.«
»Ich schon«, sagte Léti entschlossen. »Ich würde es tun. Ohne zu zögern. Und hoffentlich schon bald.«
Betretenes Schweigen machte sich im Keller breit. Beiden war klar, dass sie diese Frage künftig würden meiden müssen. Bowbaq beschloss, das Thema zu wechseln. »Ich denke die ganze Zeit an das, was wir gestern gesehen haben. Die Pforte … Du auch?«
Léti nickte stumm, als sie sich erinnerte, was sie beim Anblick des Wunders empfunden hatte: erst schreckliche Angst, dann Begeisterung und schließlich tiefe Trauer.
Nur dieses Gefühl war ihr geblieben. Alle Gefährten litten unter einer sonderbaren Schwermut, einem Kratzer in der glatten Oberfläche ihres Seelenfriedens. Er war zwar nicht tief, würde aber nie mehr verheilen.
Niemand klagte, und niemand bereute, die Pforte gesehen zu haben. Doch die andere Welt ließ ihnen keine Ruhe.
»Was glaubst du?«, fragte Léti. »Was liegt hinter der Pforte?«
Der Riese dachte eine Weile nach. Er hatte von Anfang an auf diese Frage hinausgewollt, doch nun scheute er sich, die Antwort auszusprechen. »Im Glauben meines Klans gibt es mehrere Legenden, die uns eine Erklärung liefern könnten«, begann er vorsichtig.
»Tante Corenn sagt, es sei vielleicht eine Art Paradies. Ein Ort, an dem die Seelen der Toten weilen.«
»Als Kind erzählte man mir eine ähnliche Geschichte. Ich hoffe, deine Tante hat recht.«
Léti konnte den Gesichtsausdruck ihres Freundes nicht deuten. Irgendetwas beunruhigte ihn. Etwas Bedeutungsvolles. »Bowbaq, was ist die andere Welt deiner Meinung nach?«
Er setzte sich auf und lehnte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Wand. Er wollte nicht mehr liegen. Dann sah er Léti an, und seine schwarzen Augen waren unergründlich. Diesmal hatte er keine Mühe, die richtigen Worte zu finden. »Seit gestern habe ich das Gefühl, die andere Welt schon einmal gesehen zu haben, sie zu kennen. Heute Nacht träumte ich davon, wie sie mir jemand als Kind beschrieben hatte.
Dieser Jemand war kein Erbe, sondern ein Maz auf der Durchreise, ein Diener Yoos’, der bei meinem Klan überwinterte. Ich war noch ein kleiner Junge. Er war ein begnadeter Erzähler und kannte eine Menge Geschichten. Vielleicht erfand er sie auch nur. Jedenfalls gab es eine, die mich in Angst und Schrecken versetzte: die Geschichte von den Dämonen. Besser gesagt, vom Land der Dämonen. Einem Ort, ebenso schön und friedlich, wie seine Bewohner grausam und mächtig waren. Ein sonnenbeschienenes Tal mit Obstbäumen und zahmen Tieren. Aber von diesem Tal aus schleudern die schwarzen Götter ihre Flüche auf die Welt und die Menschen.
Ich bin froh, dass wir die Pforte nicht durchschreiten konnten«, sagte Bowbaq ernst.
Yan starrte Corenn an. Wenn er die Münze nicht mit eigenen Augen in der Luft hätte schweben sehen, hätte er ihre Worte für einen Scherz gehalten. Und selbst jetzt
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