Die magische Fessel
beugte sich über eine Brüstung, die wie alles um sie herum halb durchscheinend war und doch Halt gab. Sie streckte beide Hände weit aus, Mythor entgegen, als ob sie ihn zu sich heraufziehen könnte.
Und dann flüsterte etwas in ihr, und noch während es sprach, wurde es schwächer und vermittelte der Tochter des Kometen einen Eindruck des furchtbaren Kampfes, den Oomyd gegen die Mächte der Finsternis auszutragen hatte:
Mag das Feuer, das in euch brennt, dem Dunkel trotzen, das nach euch greift! Ich gebe euch den Aufschub – doch gebt ihr mir nicht die Schuld, wenn er auch das Verderben bringt!
Kaum war die Stimme verklungen, als Carlumen auch schon wieder voll stofflich wurde. Mythor zögerte keinen Augenblick, er griff sich das Seil und zog sich daran herauf. Gerrek war hinter ihm. Jeder, der Zeuge der verzweifelten Flucht vom Eiland wurde, hielt den Atem an. Denn nun regte sich Yhr wieder, war dabei, ihre Fesseln abzustreifen und gewann an Gestalt.
Plötzlich war Mokkuf neben Fronja und streckte Mythor seine Schildhand entgegen. Der Gorganer ergriff sie. Mokkuf zog ihn mit der Kraft eines Bären über die Brüstung, danach Gerrek.
Yhr zischte und peitschte. Schon sank sie auf Carlumen herab, schon schnappten ihre gierigen Mäuler wieder nach den Kriegern.
Dann spaltete sich das immerwährende Wabern. Yhr wurde davongeschleudert und in den schwarzen Riß hinein. Zum letztenmal hallte ihr Zischen über das Eiland. Zum letztenmal sah Fronja die Tempel und das Licht, das über ihnen flutete.
Sie schloß die Augen vor der blendenden Helligkeit, und als sie sie wieder aufschlug, war Finsternis.
*
Tartan stand mit hängenden Schultern vor den Hütten und sah, wie das Wüten der wieder erstarkenden Schlange das Schicksal der Fliegenden Stadt zu besiegeln schien. Er spürte Oomyd in sich, fühlte die Kraft auf- und abschwellen, nahm wahr, wie Oomyd noch einmal alles gab, um die Fremden dorthin zurückzuschleudern, woher sie gekommen waren. Und als die Fliegende Stadt von einem Augenblick zum anderen verschwand, sank er völlig entkräftet zu Boden. Um ihn herum fielen die Brüder, nieder, einige von ihnen wie tot.
Das Wissen darum, daß Oomyd im letzten Moment über das Böse gesiegt hatte, weil es seine Macht blitzartig aus den Lebenskräften der Diener verstärkte, nahm ihm etwas von seiner unendlich großen Scham, wenngleich es nie wiedergutmachen konnte, was Tartan und seine Brüder getan hatten.
Tartan blieb auf dem Rücken liegen, den Blick auf das immerwährende Wabern gerichtet, das sich nun wieder geschlossen hatte.
Nur allmählich strömten die Kräfte in ihn zurück. Oomyd hatte gesiegt, zum zweitenmal das Licht gekostet und sich selber bezwungen.
Oomyd hatte den Toten das Leben zurückgegeben, dessen sie sich nicht würdig gezeigt hatten. Das Böse war in ihnen geweckt worden, weil es tief in ihren Herzen wohnte.
Etwas berührte Tartan an der Schulter, und er sah, daß es eines von Makbors zehn Beinen war. Überall erblickte er nun auch die anderen im Kampf Bruder gegen Bruder Gefallenen, die Oomyd wiederbelebte.
Doch wir sind es nicht wert, niemals waren wir es! Wir haben die heiligen Stätten entweiht und verwüstet!
Oomyd aber sprach in ihm:
Du irrst dich, Tartan! Denn in euren Herzen wohnt das Gute wie das Böse! Einmal erwacht, gab es mir die Kraft – und damit uns allen! Wir sind eins, weder ich kann ohne euch leben, noch ihr ohne mich. Wer möchte, mag seiner Wege gehen, ich schicke ihn in seine ferne Heimat zurück! Wer aber ein Bruder unter Brüdern bleiben will, der komme in die Tempel, auf daß es niemals mehr Schranken geben soll. Das Böse ist vom Eiland geflohen und hat Koons Hülle mit sich genommen. Es wird nicht ein zweites Mal über uns siegen können, wenn wir gemeinsam stark sind im Wissen um seine Macht und seine vielfältigen Versuchungen!
»Dann ist Koon… ist das Böse nun an Bord der Fliegenden Stadt?« fragte Tartan laut. »Die Fremden konnten ihm nicht entkommen?«
Ich hoffe, daß sie dort, wo sie nun sein mögen, einen Weg finden, ihm zu trotzen. Ich konnte nicht mehr für sie tun, als ihnen die Rückkehr zu ermöglichen dorthin, wo sie frei sind in ihren Bewegungen und ihren Taten, so wie Mythor es wünschte, als er mir das Licht zurückbrachte.
Tartan richtete sich auf und betrachtete seine Glieder, die Farben und das Leben in ihnen.
Langsam setzte er sich in Bewegung. Die Brüder erhoben sich und folgten ihm ohne Ausnahme zu den Tempeln.
Tartan fühlte,
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