Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen
er den Dienst an dem bewußten Tischchen abgenommen hatte. Dies rief eine Gedankenverbindung in ihm hervor.
»Drechsler,« sagte er, »ich gehe jetzt, ich verabschiede mich, und überbringen Sie den anderen Kollegen meine Grüße. Sagen Sie ihnen, ich hätte ein wichtiges Geschäft zu machen, das keinen Aufschub duldet. – Übrigens«, setzte er mit einem leichten maliziösen Lächeln hinzu, »werde ich Sie von jetzt ab nicht mehr hindern, Trinkgelder einzunehmen. Sie wissen schon, an dem Ecktischchen dort drüben.«
»Herr Zinkeisen meinen die Engländer. Die wollen heute abend nach Wien weiterfahren.«
»Soso«, sagte Herr Zinkeisen. Er blieb eine Weile unschlüssig stehen und wiederholte dann schier mechanisch: »Nach Wien, sagten Sie.«
»Nun, derlei Herrschaften bindet ja nichts«, sagte Herr Drechsler scherzhaft. »Man ist einmal hier, einmal dort.«
»Sehr richtig bemerkt.« Herr Zinkeisen sah im flackernden Blick des Kellners einen haltlos umhergehetzten Neid.
»Sie haben es gut, Herr Zinkeisen, auch Sie bindet nichts. Sie gedenken außer Landes zu gehen.«
»Das kann wohl stimmen, Drechsler. Ich nehme meine Beschäftigung von früher wieder auf.«
»Ah, Indien«, murmelte der Kellner mit schlaffen Lippen. Die Serviette rutschte ihm unter dem Arm hervor und fiel zu Boden. Er merkte es nicht einmal. »Sie gehen nach Indien.«
Und während sich der Aufseher und nunmehrige Weltreisende von ihm fortbewegte, stand er noch ein paar Sekunden da und ließ etwas ganz Großes, Krauses in seinem Hirn entstehen. In einer oder zwei Stunden würde das ganze Hotel, dessen war Zinkeisen sicher, vom Liftboy bis zum letzten Küchenmädchen hinunter, sich an dem mystischen Worte »Indien« berauschen. Ein letzter Gang war noch zu Herrn Brecht.
Dieser war auch schon auf dem Posten, denn man mußte es ja. Man mußte die entschlüpfenden Werte von gestern noch am Schwanz erwischen, ehe sie schrumpften. Herr Brecht war verkatert, so schien es, oder war dies seine gewöhnliche Morgenstimmung? Seine slawischen Augen hatten sich hinter etwas verschwollenen Lider verkrochen. »Na«, sagte er, sich erhebend und schnell wieder zurückfallen lassend, »ich wünsche Ihnen alles Gute, Zinkeisen. Was abgemacht ist, bleibt abgemacht. Sie wissen schon. Und der Schreibtischstuhl dort«, er deutete mit dem Bleistift nach der Ecke, »ist schon für Frauchen vorgewärmt.« Der Humor dieser Bemerkung fand kein Echo.
»Ich habe meiner Frau Mitteilung gemacht«, sagte Herr Zinkeisen sachlich, »daß sie hier einen Vertrauensposten übernehmen soll.«
»Vertrauensposten? Ganz richtig!« pflichtete Herr Brecht bei, und ein leises Lächeln umspielte seine prallen Lippen. »Gutbezahlter Vertrauensposten. Übrigens, wann geht Ihr Zug? Wenn Sie eilen, erwischen Sie noch den zehn Uhr fünfzehn Hamburger.«
»Ja, ja, ja,« sagte Herr Zinkeisen, »dann ist es wahrhaft äußerst eilig. Leben Sie wohl.«
Er eilte nach einem nochmaligen Druck der weißen Reptilhand des Buchhalters durch die Halle hinaus zum wartenden Auto. Es war vier Minuten vor der Abgangszeit, als er am Bahnhof anlangte. Während er in der kleinen Kette von Menschen, die vor dem Schalter stand, fiebernd wartete, überkam ihn auf einmal die Angst vor der Möglichkeit, seiner Frau noch einmal zu begegnen. »Lächerlich,« sagte er dabei, »das ist ja gerade, als ob ich auf der Flucht wäre!« – Aber er spähte trotzdem ständig nach dem Eingang hin und war sehr erleichtert, als er das Billett in Händen hielt und im Laufschritt zum Zuge eilte.
Kaum hatte er einen Blick auf den Perron geworfen, da sah er sie. Ja, das mußte sie sein. Sie wandte ihm den Rücken zu. Es waren vierzig bis fünfzig Schritte Entfernung. Spähend die Hände in die Hüften gestemmt, in zugeknöpftem Regenmantel, der wohl ihre hastige Toilette verstecken sollte, ein gelöstes Schuhband am rechten Fuß, so ging sie anscheinend, zu allem entschlossen, die Wagenreihe hinunter.
Er erhaschte ihr Profil, und nun war es ihm zur Gewißheit. Hier hatte er das Billett, im nächsten Moment würde das Signal zur Abfahrt ertönen.
Hastig ergriff er den Koffer und trat den Rückzug an. Sein Gesicht war fleckig, seine Zähne setzten sich hart aufeinander. Er mußte einen anderen Zug benutzen. Er war der Begegnung auf einmal nicht mehr gewachsen. Er fühlte, daß er sich hinreißen lassen werde, daß er brutal sein müsse, und alles, was an Respekt vor Ordnung und Öffentlichkeit in ihm saß, wehrte sich dagegen.
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