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Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen

Titel: Die magische Laterne des Herrn Zinkeisen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willy Seidel
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Sollte er, ein Herr von Welt, sich von einer zeternden, schlampigen, gewöhnlichen kleinen Person eine Szene machen lassen?
    Der Wartesaal dritter Klasse war es, wo sie ihn wohl am allerwenigsten vermuten würde. Er ging in die hinterste Ecke und setzte sich mit dem Rücken gegen die Drehtür. Sie würde wohl kaum den Bahnhof durchstöbern, wenn der Zug abgefahren wäre, sondern ihn noch im Hotel vermuten. Jetzt hieß es, ruhig Blut zu behalten und auf gute Art wegzukommen.
    Er zog die Uhr. Der Zug mußte fort sein. Nach weiteren zwanzig Minuten konnte er wohl riskieren, sich nach einer anderen Möglichkeit umzutun, ohne ihr in die Arme zu laufen. Er ließ sich ein Kursbuch bringen. Das Billett verfiel ja nicht, und wenn er auf einer Strecke einen Personenzug benutzte, so bekam er vielleicht noch etwas herausbezahlt. Er stellte fest, daß in zwei Stunden ein passender anderer Zug gehen werde, und verließ den Bahnhof am hinteren Portal.
    Hier befand sich eine kleine Parkanlage, etwa einen Morgen groß, von Fabrikbauten umgeben. Er betrat sie und landete bei einer Bank, auf die er sich niederließ. Ein ganz feiner Nebel herrschte, Dampfsirenen tönten, Hochbahnzüge rasselten in einiger Entfernung vorüber. Alles erschien ihm klebrig und feucht. Die Fabriken begannen, die letzten Nachzügler ihrer Arbeitskräfte aufzusaugen.
    Es waren Stundenarbeiter, die kamen und gingen, wie man sie gerade brauchte. Sie fühlten sich, das sah man ihnen an, ausgenutzt mit der ständigen Möglichkeit, beim nächsten Termin auf der Straße zu liegen. Ihre Gesichter waren verhungert. Sie trugen einen zynischen Zug um den Mund, und bei keinem wohl fehlte die Schnapsflasche in der Rocktasche.
    Auch Frauen und Mädchen in ähnlicher Verfassung kamen vorüber. Sie schenkten dem gutgekleideten bürgerlichen Herrn dort auf der Bank schiefe, hämische Blicke. Einige machten obszöne Bemerkungen oder streckten ihm die Zunge heraus. In ihren Augen war auch er ein Vampir, so treuherzig und wohlwollend er sie auch betrachtete. Aber, was unter anderen Umständen Herrn Zinkeisens hemmungsloses Mitleid erregt hätte, war ihm heute nur lästig. Unsauberkeit war das, Unordnung, und wert, zermahlen zu werden. Dieses gehässige Schimpfen und Plärren aus dem Proletarierhaufen heraus schlug wie eine schmutzige Welle herüber, vor der man ein wenig zurückwich. Sie konnten ihm nichts anhaben, sie wollten ihn zu sich herunterzerren, und sie würden es wohl auch fertigbringen; denn etwas wackelte bereits an seinem inneren Halt.
    Aber noch hatte er das Billett in der Tasche, noch konnte er sich diesem entziehen und sich neu installieren mit Goldknöpfen auf einer weißen Stewardjacke, durch ein funkelndes Meer hindurchgondelnd, an dessen äußerstem Rande dieser Schlackenhaufen versinken sollte; und es packte ihn wieder diese Beklemmung um die Brust, so daß er tief aufatmen mußte. Es fröstelte ihn ein wenig . . .
    Während er, wie vom Schwindel erfaßt, die Augen schloß, trat ihm das Gesicht des Engländers wieder vor das innere Auge.
    Das war wo anders gewesen, ganz wo anders; und da blickten ihn die Augen grellblau aus dem tabakfarbenen Gesicht unter dem Helm eines Tropenhutes hervor wiederum an. Immer mehr gruppierte sich hinzu, bis Herr Zinkeisen auf einmal wie mit einer plötzlichen Erleuchtung eine Szene wiedererlebte.
    Ja, er erlebte sie wieder. Er war wie in einer Trance.
    Er saß hier in einem kalten, grauen, von blechernem Hämmern, Bahngerassel und Pfiffen durchsetzten deutschen Vormittag, vor sich den trostlosen Ziegelbau des Bahnhofs und weiter entfernt den Wald geschwärzter Fabrikschornsteine. Zwischen kümmerlichen, halbverdorrten Büschen saß er inmitten einer hungernden, schmutzigen Menschheit, die an ihm vorbeiflutete, und seine Seele war auf einer völlig anderen Ebene und sah mit anderen Augen ganz entschwundene, beklemmend fremdartige Dinge und feierte Wiedersehen mit ihnen . . . In dieser Verfassung fuhr er, nach einer Stunde, ab.

Die »Reiche der Welt und ihre Herrlichkeiten«
    Ein deutscher Frachtdampfer führte, außer seiner Ladung und zwanzig Passagieren, noch einen schlecht bezahlten Speisesteward mit sich; namens Edmund Zinkeisen. Und dieser erbat sich unwirsch gewährten Urlaub vom Kapitän, um ein paar Stunden an Land zu gehen.
    Man lag vor der Westwharf in Singapore; es war Mai 1923. Der englische Hafenbeamte hieb den Kontrollstempel in seinen Paß; er durfte also an Land bleiben »während des Aufenthaltes des

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