Die Magistra
Moos. Übermütig riß sie einen langen, dünnen Halm aus der Erde und trug ihn wie ein Zepter vor sich her. Trotz ihrer Vorliebe für Bücherweisheiten liebte sie die Natur über alles. Wie oft war sie als kleines Mädchen Roswitha oder ihrer Mutter entwischt und hatte sich über den Mühlsteg auf die Weizenfelder von Lippendorf oder in den Wald geschlichen, um zu träumen und die Stille zu genießen.
***
Katharina Luthers Freihof war kein Gut im eigentlichen Sinne, und als Philippa den Zaun mit dem nur angelehnten Gattertor erreichte, erkannte sie, daß sie sich den Weg durch das Waldstück hätte ersparen können. Ebenso den Gang durchs Stadttor, da auch eine schmale Pforte gleich hinter dem alten Viehmarkt auf den Zahnischen Weg führte. Vor dieser Pforte stritten sich zwei Hirten um den Vortritt für ihre Hammelherden. Ein Wächter war hingegen weit und breit nicht zu sehen.
Philippa betrat das Grundstück durch ein Gattertor und sah sich vorsichtig nach allen Seiten um. Vor ihr lag ein rechtwinklig geschnittener Garten, der Katharina Luthers Kräutergarten hinter dem Brauhaus des ehemaligen Klosters ähnelte. Entlang der Bäume schlängelte sich ein kleiner Bach, der mehrere mit Netzen überspannte Fischteiche speiste.
Das Haus war einstöckig und wirkte mit seinen aus groben Balken gezimmerten Wänden eher wie ein Tischlerschuppen. Der Boden rings um die Behausung bestand aus rötlichem Lehm. Philippa versank beim Gehen knöcheltief im Morast und ärgerte sich, daß sie keine Holzpantinen angezogen hatte.
Die Vorderseite des Hauses war mit Malereien geschmückt, doch die Farben blätterten bereits ab, was den trostlosen Eindruck von Vernachlässigung und Verlassenheit unterstrich. Philippa wunderte sich, daß ihre tatkräftige Tante den Garten nicht sorgsamer beaufsichtigte. Noch ehe sie an die Tür klopfen konnte, hörte sie hinter sich schwere Schritte.
»Nun, Jungfer von Bora, wieder auf der Suche nach der heiligen Katharina?«
Erschrocken drehte sich Philippa um und starrte in die tiefschwarzen Augen des Predigers Felix Bernardi. Im selben Augenblick wurde die Tür des Holzhauses aufgerissen. Eine Frau steckte den Kopf heraus. Fragend blickte sie Philippa an. Die Frau war groß, mindestens so groß wie der Prediger. Ihre Züge waren nicht gerade ebenmäßig, und die Haut hatte einen Stich ins Graue. Doch um diesen Mängeln das Gewicht zu nehmen, hatte die Natur ihr wunderschöne, seidig glänzende Haare geschenkt, die in breiten Strähnen über ihre Schultern fielen. Noch ehe die Frau Philippa begrüßen konnte, postierte sich Bernardi neben sie.
»Welche Ehre, daß Ihr trotz Eurer zahlreichen Pflichten Zeit findet, dem bescheidenen Freihof am Faulen Bach einen Besuch abzustatten. Wie geht es Eurer Amme?«
»Ich hätte nicht erwartet, Euch noch einmal wiederzusehen, Herr Bernardi«, erwiderte Philippa, die den Spott in Bernardis Stimme durchaus bemerkt hatte. Gereizt blickte sie auf ihre lehmigen Schuhe, die immer tiefer in den Grund einsanken. »Hattet Ihr es nicht besonders eilig, nach Lippendorf zurückzukehren, um meinem lieben Bruder meinen Aufenthaltsort zu verraten?«
Bernardi blickte sie mitleidig an. Er hatte inzwischen die strenge schwarze Schaube mit dem gefächerten weißen Rundkragen gegen ein Schnürhemd aus Leinen, eng anliegende braune Wollhosen und ein viel zu großes Wams mit knielangen Faltenschößen eingetauscht. Um den Hals trug er das silberne Medaillon, das Philippa bereits in Lippendorf aufgefallen war.
»Warum antwortet Ihr mir nicht, Prediger?«
»Die Beschaulichkeit des Schwarzen Klosters scheint Euch gutgetan zu haben, Jungfer von Bora«, entgegnete Bernardi. »Glaubt mir, auf dem Reisewagen wart Ihr längst nicht so freundlich zu mir! Im übrigen wäre ich Euch dankbar, wenn Ihr mich nicht länger Prediger nennen würdet!«
Bevor Philippa etwas darauf erwidern konnte, öffnete die Frau mit dem wallenden Haar ihre Tür vollends und forderte sie mit einer einladenden Handbewegung auf, näher zu kommen. »Ihr seid also die Nichte der Lutherin, deren Eltern an der Pest starben!« stellte sie mit tiefer Stimme fest.
Philippa blickte die Frau nachsichtig an. Nur ihr Vater war ein Opfer der Seuche geworden, ihre Mutter hingegen … Aber das konnte die fremde Frau schwerlich interessieren. Schließlich antwortete Philippa mit einem unverbindlichen Nicken und schlug höflich die Augen nieder.
»Jungfer von Bora, darf ich Euch die Verwalterin des Freihofes, Magdalena
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