Die Magistra
noch einmal ohne Begleitung auszugehen. Schließlich aber beruhigte Philippa sich wieder. Es gab wichtigere Dinge als einen Wittenberger Schmutzpoeten.
Doktor Luther hatte ihr die Mädchenschule anvertraut. Anders als ihr Vater und Sebastian schien er an ihre Fähigkeiten zu glauben. Das Glücksgefühl, das dieser Gedanke heraufbeschwor, verursachte ein angenehmes Prickeln auf ihrer Haut. Endlich fühlte sie sich wieder lebendig und zu etwas nutze.
Auch wenn man von einer gewöhnlichen Schulmeisterin nicht mehr erwartete, als Kindern Lesen, Schreiben und den Katechismus beizubringen, würde sie in Zukunft zumindest ihre Schriften studieren und an ihren Übersetzungen arbeiten können, ohne Angst haben zu müssen, daß sie wie in Lippendorf Mißfallen damit erregte. In Gedanken ging sie die Liste der Bücher durch, die sie dem Lehrplan für den Unterricht der jungen Mädchen Wittenbergs hinzuzufügen gedachte. Auf alle Fälle sollten sie Erasmus kennenlernen, vielleicht auch die großartigen Ausführungen des Petrus Hispanus zur Logik. Und die Anfangsgründe des Lateinischen natürlich. Irgendwo in ihrer Truhe mußte noch eine Ausgabe des in den Lateinschulen des Reiches gebräuchlichen Vocabularius liegen.
Als Philippa sich dem offenen Elstertor näherte, bemerkte sie, daß der junge Turmwächter seine Stube verlassen hatte. Schmatzend kaute er auf einem Kanten Käse herum, während ein fettleibiger Mann mit aufgeregten Gesten bemüht war, den Zollpreis für die Mehlsäcke auf seinem Wagen zu senken. Philippa räusperte sich. Vermutlich würde die Auseinandersetzung noch eine ganze Weile dauern, und sie wollte wieder vor der Dunkelheit zurück sein. Irritiert löste der Turmwächter seinen Blick von den prallen Säcken seines Opfers und musterte einige beklemmende Momente lang das Blumenmuster ihres Kleides. Als er weder Karren noch Ware entdeckte, für die er eine Abgabe hätte eintreiben können, winkte er sie gelangweilt durch das Tor.
Philippa atmete auf. Sie war in ihrem Leben nicht oft durch Stadttore gelaufen und schätzte sich dieses Umstandes mehr als glücklich. Die hohen Mauern und Türme mochten den Menschen, die hinter ihnen hausten als Schutz vor feindlichem Ansturm dienen, doch sie nahmen ihnen auch ein Stück Freiheit, hielten sie hinter Stein und Holz gefangen. Und was am schlimmsten war: Sie machten aus Stadtbewohnern Verschworene, die jeden Fremden, der an ihre Tore klopfte, mit Argwohn behandelten.
Fröstelnd zog Philippa die Kapuze ihres Umhanges über den Kopf und überquerte den Stadtgraben, dessen morastiges Wasser den Unrat der Gassen rings um die Mauer mit sich schwemmte. Am anderen Ende der Brücke blieb sie eine Weile stehen und atmete die kalte Luft ein, als müsse sie ihre Lungen vom Mief der vielen Menschen und des Viehs vom nahen Saumarkt reinigen.
Unterhalb der hölzernen Brücke bemerkte sie ein paar halbwüchsige Knaben, die bis zu den Knien im Graben standen und aus Binsen geflochtene Käscher und Ruten ins Wasser tauchten. Als einer der Jungen auf Philipps aufmerksam wurde, versteckte er sich hinter den ausladenden Zweigen einer Weide.
Philippa war sich sicher, ihren Cousin Johannes unter den Dreckfinken erkannt zu haben, doch lag ihr nichts daran, den Jungen in Verlegenheit zu bringen. Das Mittagsläuten lag bereits eine ganze Weile zurück. Vielleicht hatte Johannes' Schulmeister ihm und seinen Kameraden für den Rest des Tages freigegeben.
Irgendwo hinter der Weggabelung mußte sich der Zahnische Weg mit einem Baumgarten kreuzen. Katharina hatte ihr den Weg zum Freihof mindestens zehnmal erklärt und sehr bedauert, daß sie keine Zeit hatte, selber zu gehen. Aber die Vorbereitungen für das morgige Gastmahl nahmen sie und das Gesinde zu sehr in Anspruch, um sich selbst um eine widerspenstige junge Magd zu kümmern. Philippa hatte sich sofort erboten, das Mädchen nach Wittenberg zu begleiten, eine Bereitschaft, die nicht allein dem Beweggrund entsprang, der Lutherin zu Diensten zu sein. Sie hatte einfach die Chance gewittert, sich für einige Zeit den strengen Augen ihrer Tante zu entziehen und die Gelegenheit beim Schopfe gepackt. Nicht einmal Roswitha hatte sie erlaubt, sie bei ihrem ersten Spaziergang zu begleiten, was die Amme beleidigt zur Kenntnis genommen hatte.
Philippa lächelte befreit, als sie den lehmigen Waldboden unter ihren Sohlen spürte und die zerzausten Krähennester zwischen den Baumwipfeln betrachtete. Die Luft roch würzig nach Harz und nassem
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