Die Maikaefer
Leiter fast umfiel. Mein Herz schlug bis zum Hals, aber ich nahm all meinen Mut zusammen und schaute mir das Schauspiel bis zum Ende an. Meine Mutter musste mir versprechen, dass wir auf jeden Fall nach Drewitz führen, wenn die Stute fohlen würde.
Auf dem halben Weg zwischen Naugard und Drewitz kam uns Elsbeth Schlodhauer auf ihrem Milchwagen entgegen. Ich winkte ihr zu und rief: »Wo ist Eule?«
»Der ist mit Brunhilde bei den Bienenstöcken. Komm bei uns vorbei, dann kannst du naschen.« Sie lachte und war auch schon weiter. Sie war die Mutter von Berti, den jeder Eule nannte, weil er aussah wie eine Eule. Sie hatte nicht nur den Milchwagen übernommen, den sie fuhr, seit ihr Mann, wie etliche andere auf dem Gut, eingezogen worden war, sondern half auch im Kuhstall. Eule war mein Freund auf dem Gut, mit dem zusammen ich Hühnereier in der Dreschscheune suchte. Er war genauso alt wie ich. Er hatte nicht die grüne Augenfarbe seiner Mutter, in deren Nähe ich mich immer so wohl fühlte. Vielleicht hatte das auch mit ihren Pferden Hänsel und Gretel zu tun, Halbblüter, die ich gerne einmal kutschiert hätte.
Paul fragte mich, wer das war, und ich erzählte ihm von Elsbeth, die die Milch zur Molkerei brachte, und von Eule, der genauso gern heiße Milch mit Honig trank wie ich. Mein anderer Freund auf dem Gut war Hotte, wenn er auch schon vierzehn war und mich immer damit neckte, dass er mein Onkel sein könnte. Hotte arbeitete in der Schmiede, und ich beschrieb Paul, wie die Pferde beschlagen wurden und was ich sonst noch über das Roxin’sche Reich wusste. Das war mein Auftrag, und ich wollte mir die Tafel Schokolade verdienen. Es war nur nicht so einfach, denn Paul redete am liebsten über den Krieg und versuchte, mir auf der Kutschfahrt nach Drewitz zu erklären, wie der Krieg angefangen hatte.
Um mich in das Thema zu verwickeln, fragte er zunächst scheinheilig, ob ich überhaupt wisse, wie der Krieg angefangen habe und gegen welches Land wir zuerst zu Felde gezogen waren. Meine Mutter erklärte ihm, dass ich noch gar nicht auf der Welt war, als Hitler die Tschechoslowakei besetzte. Aber Paul lachte nur und sagte, der Krieg habe gar nicht mit der Besetzung der Tschechoslowakei begonnen, sondern mit dem Feldzug gegen Polen.
»Der Krieg kann hundert Jahre dauern oder mehr«, sagte ich, »solange er nicht hierher kommt, gibt es hier alles, was die Menschen zum Leben brauchen, und nichts zum Sterben.«
Paul lachte. »Sterben müssen sowieso alle.«
»Aber nicht am Krieg«, beharrte ich.
»Der Krieg ist in wenigen Tagen zu Ende«, sagte Paul selbstgewiss und fügte hinzu, um mich zu ärgern: »Aber hundert Jahre wird das Gut nicht standhalten.«
Gegen Pauls Wissen hätte ich auch dann nicht ankommen können, wenn ich älter gewesen wäre, aber auf dem Gut würde das nicht gelten. Ich nahm mir noch einmal ganz fest vor, ihm alles zu zeigen – alle Tiere und all die Menschen, die mit ihnen arbeiteten, auch das Herrenhaus mit den Kellergewölben. Er sollte nicht nur zuschauen, wenn die Pferde gefüttert, die Kühe gemolken, die Gänse zusammengetrieben wurden, er sollte auch mithelfen. Ich würde ihm zeigen, wie gemolken wurde, wie die Pferde gefüttert wurden, wie er sie zu striegeln hatte, wie er sich dabei auf einen Hocker stellen musste. Ich wollte, dass er das Glück kennen lernte, wenn die Pferde schnaubten, die Kühe ihren warmen Geruch morgens verströmten, wenn sie abends muhend von der Weide zurück in den Stall gingen, wenn die Schweine grunzten und die Hühner gackerten, nachdem sie ein Ei gelegt hatten. Also schwieg ich und lauschte dem Gesang eines Lerchenpaares, das über dem Kornfeld neben der Straße schwebte.
Die Chaussee von Naugard nach Drewitz war zwar asphaltiert, aber wir fuhren auf dem daneben laufenden Sommerweg für Kutschen und Pferdewagen, sodass außer den Hufen auf dem Sand, dem Ächzen des Geschirrs und dem gelegentlichen Schnauben nur die Vögel zu hören waren. Keine Eisenbahn und kein Auto, kein Flugzeug, nicht einmal die Kleinbahn, die von Naugard am Gut vorbeiging. Je nach Bedarf hielt sie an einer Verladerampe vor einer großen Lagerhalle, um das Korn aufzunehmen oder Säcke mit Düngemitteln abzuladen.
Als wir Drewitz fast erreicht hatten, bogen wir vor einem Birkenwäldchen rechts von der Chaussee ab und fuhren über einen breiten Feldweg, der direkt auf das Gutsgelände führte. Ich suchte mit den Augen nach den Störchen, von denen es zwei auf dem Gut gab.
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