Die Maikaefer
vorbei, dann zwischen Schafstall und Kuhstall hindurch und passierten dort, wo links und rechts Park und Obstgarten begannen, das Kornhaus auf der linken, Remise und Pferdestall auf der rechten Seite. Das Herrenhaus bestand aus einem Haupttrakt mit zwei Seitenflügeln, die einen Springbrunnen umrahmten. Grohmann umfuhr das Rondell mit dem Brunnen, aus dem eine hohe Fontäne aufstieg, und hielt vor der Freitreppe des Schlosses, wie viele das Herrenhaus nannten.
Als ich aus der Kutsche kletterte, sah ich Eule im Schatten der zwei großen Eichen links und rechts des Eingangs zum Obstgarten. Er beobachtete uns, ich winkte ihm zu, aber er wagte sich nicht näher an das altehrwürdige Herrenhaus heran, das Anfang des 13. Jahrhunderts erbaut worden war, wie Onkel Albi jedem Besucher erklärte. 1500 wurde es erweitert und auf denselben Fundamenten 1700 bis 1701 noch einmal neu erbaut. Auf den soliden Mauern standen große Gewölbe, deren feste, rote Ziegelsteine sich in den Jahrhunderten schwarz gefärbt hatten. Unheimlich waren Dagi und mir die großen schweren und oben gerundeten Eichentüren, weil sie beim Öffnen und Schließen laut und gruselig knarrten, was man durchs ganze Haus hörte.
Vierzehn Jahre nachdem das Herrenhaus fertiggestellt worden war, wurde der Park angelegt. Da zu dieser Zeit der französische Sonnenkönig Europa überstrahlte, entstand der Park ganz in französischem Stil. Tante Sissi war sehr stolz darauf und zeigte mir Bilder vom Hofe Ludwigs XIV. mit ähnlichen Gartenanlagen. Sie meinte, das Einzige, was in Europa noch herrlicher erstrahlte, wären die Aufmärsche des Führers, die sogar noch über Homer, über das Alte und das Neue Testament hinaus leuchteten. Natürlich wollte ich mehr darüber wissen, denn alles, was mit dem Führer zusammenhing, war geheimnisvoll und erregte mein Interesse, und sie sagte etwas von der Ilias, einem griechischen Epos, das der Führer als Maler, der er ja eigentlich wäre, mit allem, was er triebe und auf die Beine stellte, illustrieren wollte. »Darum geht es ihm eigentlich«, knurrte sie voller Verachtung und versprach, mir bei den nächsten Besuchen die Ilias zu erzählen. Dazu kam es nicht mehr, weil die Veranstaltungen des Führers, von denen sie sprach, zu gewaltig und zu apokalyptisch wurden.
Gleich nachdem wir am Teich rechts in die Kastanienallee eingebogen waren, mussten wir anhalten, weil die Kühe uns den Weg versperrten. Aus ihrem an- und abschwellenden Muhen hörte ich das Quietschen der Pumpe heraus. Ich kannte dies Geräusch, weil wir uns Kinder unter der Pumpe immer die Füße wuschen. Als es noch keine Leitungen gab, holten die Gutsarbeiter dort ihr Wasser in je zwei Eimern, die sie an einem Schulterkreuz aufhängten.
Die Kühe kamen am späten Nachmittag immer zur gleichen Zeit von der Weide. Die Trift von der Koppel bis zum Stall querte die Kastanienallee, und da es mehr als hundertfünfzig Kühe waren, gab es vor dem Stall einen Stau. Jeder Eingangsbereich des Kuhstalles hatte einen breiten Gang, und auf jeder Seite dieses Ganges standen dreizehn Kühe. Ich staunte oft darüber, dass jede Kuh genau ihren Platz fand, obgleich sich die Plätze nur durch die darüber angebrachten Nummern unterschieden.
Mit der letzten Kuh kam Günni Kelm, der Bruder des kleinen Ricki, dessen Vater Gärtner auf dem Gut war. Günni war mit vierzehn der Jüngste bei den Kühen. Er hechelte, weil er als Säugling eine Lungenentzündung hatte, die nie ganz ausheilte. Daher war es nicht leicht für ihn gewesen, auf dem Gut Arbeit zu finden. Das Kühehüten war eine Lösung, es strengte ihn nicht so sehr an, und alles wäre auch gut gegangen, wenn er nicht außerdem noch so ein Träumer gewesen wäre, der aus der realen Welt gänzlich entschwinden konnte. Manchmal vergaß er alles um sich herum und schaute dann auch nicht mehr nach den Kühen. So handelte er sich einen Verweis nach dem anderen ein.
An seiner Mutter Ursula hing er wie eine Klette und war sehr eifersüchtig auf seinen vierjährigen Bruder Ricki, dessen Temperament und Liebreiz zu ihm in völligem Gegensatz standen. Ricki war ein hellblondes aufgewecktes Kerlchen, dem die Eltern alles erlaubten. Daher trieb er sich überall auf dem Gut herum und kannte sich gut aus. Kelms hatten noch zwei weitere Kinder bei sich aufgenommen: die Zwillinge Brunhilde und Eckhard, die in Hamburg ausgebombt worden waren und dabei ihre Eltern verloren hatten. Eckhard arbeitete in der Verwaltung, und Brunhilde half dem
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