Die Maikaefer
ermahnten, auf eine andere Wellenlänge umzuschalten. Auf vielen Sendern spielte Tanzmusik, aber Onkel Otto stoppte immer bei den Warnungen, zwischen denen das Grollen von Flugverbänden und sogar das dumpfe Ploppen von Einschlägen zu hören war.
Das ging so bis zum Abend, und wenn ich mich nicht zwischendurch in der Küche selbst bedient hätte, wäre ich vor Hunger gestorben. Als ich wieder ins Wohnzimmer zurückkam, hatte Onkel Otto gerade den Sender gefunden, den er gesucht hatte und der Stettin erwähnte. Niemand redete, aber dennoch brüllte er so laut »Ruhe!«, dass auch meine Mutter aus Dagis Zimmer kam und sich aufgeregt ans Radio drängte. Er drehte den Ton lauter, weil er schwerhörig war. Dann kam wieder die Stimme der Ansagerin, und ich hörte: »Ein Kampfverband von etwa vierzig Flugzeugen nähert sich Stettin. Die Bevölkerung wird aufgerufen, die Verdunklungen zu überprüfen und anschließend sofort die Luftschutzbunker aufzusuchen. Bitte beeilen Sie sich, Sie haben noch etwa vier Minuten Zeit.«
Schnell wurden wir in unsere Mäntel gestopft. Tante Kläre half, aber sie wollte wieder nicht mit, obwohl ich sie dringend bat. Sie meinte: »Wenn Gott will, dass ich noch ein paar Jahre lebe, dann wird er dafür sorgen.« Dagi brüllte nach ihrem Struwwelpeter, aber es war zu spät, denn in der Ferne erklang schon das leise Surren der Flugzeuge, begleitet von den Schüssen der Flak. »Los, los, los!«, peitschte uns Onkel Otto ins Treppenhaus.
Wir rannten die Stufen hinunter, und als wir auf die Straße stürzten, war alles von strahlenden Christbäumen erleuchtet, die vom Himmel sanken. Ich war fasziniert, blieb wie gebannt stehen und zeigte auf einen, der näher war als die anderen. Gleißend weißes Licht gab er ab und unterschied sich von den anderen. Es war ein ganz besonderer, und ich nannte ihn »Alexa«, an die ich oft dachte und die ich weiß leuchtend als Christkind vom Himmel schweben sah, um mich zu umarmen.
Unsanft wurde ich aus meiner Träumerei gestoßen, weil Onkel Otto mich knuffte und anbrüllte, so schnell wie möglich in den Luftschutzkeller zu sausen. Da ich am schnellsten laufen konnte, kam ich als Erster an, doch wieder war der Eingang verstopft. »Da kommen wir nicht durch«, sagte ich.
Es gab Leute, die stellten sich nicht hinten an, sondern sprangen von der Seite auf die anderen im Kellereingang, denen dabei die Hälse brachen, wie Tante Eva später erklärte. Diese Toten versperrten den Eingang, wodurch es den Stau gab.
»Wir müssen umkehren, wir können hier nicht auf der Straße stehen bleiben«, sagte meine Mutter, und Onkel Otto packte mein Ohr, zog mich von den wartenden Menschen weg und grollte: »Nächstes Mal hältst du uns nicht auf.«
Das laute Dröhnen war direkt über den Christbäumen. Sie gaben uns genügend Licht, sodass wir schnell rennen konnten. Wir hörten das Heulen der Bomben und die hämmernden Einschläge. Wir hatten unser Haus schon fast erreicht, als eine Detonation so nah war, dass wir alle hinfielen.
Oben empfing uns Tante Kläre, und als sie mir aus meinem Wintermantel half, sagte sie: »Da siehst du, wir haben es nicht in der Hand.«
Ich lief sofort zum Fenster, um die Christbäume zu beobachten, aber bis auf ganz wenige in der Ferne waren sie verschwunden. Stattdessen erstrahlte über der Stadt wie eine Krone ein rotes Feuerlicht.
Als wir ins Bett gingen, durften wir uns bis auf die Schuhe nicht ausziehen. Vor dem Einschlafen stellte ich mir vor, dass diese vierzig Bomber wie eine dicke Elefantenherde aus der Nacht kamen und auf der Stadt herumtrampelten, bis sie zu glühen und zu brennen anfing. Dann galoppierten die Elefanten zum Meer, wo ihnen Flügel wuchsen, um dorthin zurückzufliegen, wo sie hergekommen waren. Wenn ich auch so ein Elefant wäre, würde ich mich sicherer fühlen.
Der Tag hatte mich müde gemacht, und ich schlief mit den davon fliegenden Elefanten ein.
Um Mitternacht zog meine Mutter mich aus dem Bett, und ich erwachte direkt in das An- und Abschwellen des Alarms. In der Stille der Nacht heulte es durch meine Adern, ich zitterte vor Angst und konnte meine Schuhe nicht über die Füße ziehen. Meine Mutter musste mir helfen. Als wir endlich an der Wohnungstür standen, schlugen die ersten Bomben ein. Das Glas der Fensterscheiben zerbarst, Bilder fielen von der Wand, wir warfen uns erschrocken auf den Boden. An der Erde besprachen sich die Erwachsenen und meinten, es habe jetzt keinen Zweck mehr, den
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