Die Maikaefer
hatten, so wackelte, als die Bomben fielen, und er sagte, der Einschlag wäre ganz in der Nähe gewesen, in der Post nämlich, die völlig zerstört worden war. Meine Mutter erzählte mir später, dass die Post einen halben Kilometer entfernt war. Zum ersten Mal bekam ich eine Vorstellung davon, mit welcher Vernichtungskraft die vielen Feinde anrückten, die wir hatten. Die ganze Welt ist unser Feind, hatte Tante Lieschen einmal gesagt.
Immer wieder beschäftigte mich diese Distanz von einem halben Kilometer. Einerseits war es beruhigend, wenn die Bomben so weit entfernt niederfielen, andererseits machte es mir Angst, dass sich die kleinen Bomben auf Hunderte von Metern ausdehnen konnten. Niemals mehr in meinem Leben verließ mich diese unterschwellige Angst: Ein Übel, klein wie ein Punkt, könnte sich ungeheuer schnell ausdehnen. Ein kleines Übel könnte zu einer Welle der Vernichtung werden, war der Gedanke, der mich die nächsten Tage und Nächte beschäftigte.
Erst nach sechzig Jahren, als ich auf mein Leben zurückblickte, realisierte ich, wie sehr dieses Wahrnehmungsmuster aus dem Krieg mein Leben geprägt hatte. Obgleich sich nach 1945 alles wie in einem vorbildlich gepflegten Garten entfaltete, sprangen meine Sinne bei der kleinsten Erschütterung an, und wie von einem hohen Wachtturm aus spähte ich alarmiert in die Straßen und Wege meiner Zukunft, um zu sehen, welcher Angriff mir drohen und von wo er kommen könnte. Während des Krieges war uns diese Haltung durch das Voranschreiten des »Führers« abhanden gekommen, aber unsere Gegner wussten um so mehr davon und gaben dem Phänomen einen Namen, der sich irgendwann dann auch in meinem Wortschatz abbildete: worst case. In Sekundenschnelle habe ich den worst case vor Augen, kann mich ducken, Schutz suchen oder sonstige Abwehrmaßnahmen ergreifen. Von all diesen Abwehrmaßnahmen war die am häufigsten empfohlene der Angriff. Angriff ist die beste Verteidigung, hieß es. Also begann ich anzugreifen, sobald irgendwelche Anzeichen darauf hindeuteten, dass ich in Gefahr war oder in Gefahr geraten könnte. Viel zu spät begriff ich, dass ich es war, der die Kette der kausalen Schadensereignisse ausgelöst hatte und dass ein solch überalarmierter Zustand psychopathologisch ist. Die Amerikaner, die alle Lebenserfahrung handlich in einem Begriff bei sich tragen, sprechen in diesem Zusammenhang von self-full filling prophecy.
Dies alles sind Betrachtungen und Wahrheiten in einer langen Friedenszeit, durch die sich ein im Feuerhagel geprägter Mensch wie gestört bewegt. Knallt der nichts Böses wollende Nachbar die Tür, so zuckt der Feuerhagel-Mensch zusammen, als wäre auf ihn geschossen worden. Schaut ihn jemand abwesend an, ein leerer Blick, der ihm tödlich böse scheint, so schlägt er zu.
So wurde auch ich zu einem Verwundeten des Krieges, ohne dass ich körperlich verletzt worden war.
Ich glättete die Silberstreifen, die ich auf der Straße gesammelt hatte und tat sie in Mutters Nähtasche. Die hatte sie mitgenommen, um im Zug Sachen von uns zu stopfen.
Tante Kläre hatte mit der Vorbereitung des Essens noch nicht begonnen, wofür ich sie ausschimpfte. Damit es ein bisschen flotter ging, leistete ich ihr in der Küche Gesellschaft. Auch Tante Eva kam dazu und schließlich auch Onkel Otto. Sie waren alle zu aufgeregt, um alleine zu sein.
Wegen der an vielen Stellen brennenden Stadt fiel die Stadtbesichtigung gänzlich aus, obwohl ich extra danach gefragt hatte, weil ich gerne einmal ein paar brennende Häuser gesehen hätte.
»Soweit kommt es noch«, sagte Tante Eva.
»Da gibt es nichts zu sehen«, ergänzte Tante Kläre, und Onkel Otto hob drohend die Stimme. Laut sagte er in seiner bollerigen Art: »Warte mal ab!«
Dagi war von dem Fliegerangriff krank geworden und weil sie nicht aufhörte zu wimmern, brachte meine Mutter sie ins Bett und legte sich dazu.
Während Tante Kläre das Pökelfleisch zubereitete, rannte Tante Eva immer wieder zum Radio, wo eine Ansagerin, die eine so schöne Stimme wie Eules Mutter hatte, die Position der anfliegenden Bombereinheiten durchgab. Im Wechsel verfolgte sie jedes einzelne Geschwader bis zu dem Moment, da eines in ein bestimmtes Stadtgebiet einflog und die Abwürfe unmittelbar bevorstanden. Onkel Otto versuchte dann, noch andere Sender zu kriegen und schaffte es auch, gelegentlich sogar ganz ferne, wie Radio London, wo Deutsche ihre Angehörigen über die Lage informierten und sie am Schluss
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