Die Maikaefer
Stellmacherei trafen wir Heinrich Swistek und Georg Bisanz. Beide waren schon über fünfzig, ebenso wie Gustav Giese, der Pferdemeister, und der Pferdeknecht Wilhelm Bretschneider. Alle anderen Männer waren weg, einschließlich Eules Vater. Ich freute mich umso mehr, als wir Eules Mutter begegneten, die gerade ihre Pferde Hänsel und Gretel ausspannte. Da waren auch noch Imker Richard Wittek in der Schlosserei und der Maurer Emil Zöller, der gerade den Schafsstall reparierte. Ich lief schnell hinein und sagte noch dem alten Schäfer Ernst Ossowski Guten Tag.
Im Kuhstall trafen wir Emil Riemer, den obersten Melker. Hotte flüsterte: »Er hat Fronturlaub, will aber nicht zurück, weil er denkt, dass der Krieg zu Ende ist.«
Als wir an der Baracke für die russischen Kriegsgefangenen vorbeikamen, sah ich davor eine Menge Wäsche auf den Leinen und Licht in den Räumen, hörte auch Kindergeschrei. »Das sind ostpreußische Flüchtlinge«, sagte Hotte. »Die russischen Kriegsgefangenen sind vor drei Wochen nach Greifenberg in ein Großlager gebracht worden.«
Hotte war auch davon überzeugt, dass der Krieg bald zu Ende sein würde, und zeigte mir nach dem Rundgang einen Baum, in den er Sprossen geschlagen hatte, sodass man leicht in die Krone klettern konnte. Von dort aus überblickte man das ganze Land. Hottes Chef Max Wendt fand es in Ordnung, dass er zwischendurch zu dem Baum lief und hinauf kletterte, um zu sehen, »ob sich Feindverbände näherten«, wie er es ausdrückte.
Wenn der Baum so eine wichtige Funktion hatte, wollte ich gleich hinauf und Ausschau halten. Hotte sagte: »Quatsch, da kommt jetzt keiner. Ich muss los, Gerda Wendt hat das Abendbrot fertig.«
»Gut«, sagte ich, »dann werde ich dir berichten, wenn die Luft unrein ist.« Diese Formulierung hatte ich von den wenigen Indianerspielen mit Paul, wusste aber, dass er bei seinen Kriegsspielen statt »unreine Luft« gesagt hätte: Wenn keine feindlichen Truppenbewegungen auszumachen sind. Das wollte ich aber nicht. Meine Mutter hatte gesagt, wir lassen den Krieg nicht in seiner Sprache zu uns sprechen, und daran hielt ich mich. »Hörst du den Geschützdonner da irgendwo?«, rief Hotte mir hinterher, als ich schon sehr weit oben war. Ich lauschte, hörte aber nur das Wimmern der Kreissäge vom Sägewerk hinter dem Gutsfriedhof.
Kaum war ich oben, sah ich zwei Radfahrer, die sich auf einem Feldweg näherten. Als sie nah genug waren, dass ich sie an ihrer Uniform als fremde Soldaten erkennen konnte, gingen sie in Deckung. Es wunderte mich, denn es war weit und breit nichts zu sehen, vor dem sie sich hätten verstecken müssen. Gleich darauf aber hörte ich das dumpfe Kettenrasseln von Panzern und sah zwei der Ungetüme hinter dem Birkenwäldchen auftauchen. Sie wühlten sich durch den Sand des Weges, der die Naugarder Chaussee mit dem Gut verband. Hinter ihnen war ein Militärlaster voller Soldaten. Ich vermutete, dass es Russen waren. Die zwei Fahrradfahrer hatten die Panzer wohl vor mir gesehen und sich im ersten Schreck versteckt. Nun radelten sie wie die Verrückten auf das Gut zu.
Ich nahm mir nicht die Zeit, Hotte zu benachrichtigen, sondern rannte zum Herrenhaus.
Meine Mutter, die Roxins und einige der älteren Herrschaften saßen noch bei Kaffee und Kuchen und hörten sich meinen atemlosen Bericht an.
Onkel Albi erhob sich sofort, nahm seine Waffe und trat vor den Haupteingang. Ich ging mit ihm, aber die zwei Soldaten auf den Fahrrädern waren nicht zu sehen. Stattdessen kamen zwei Frauen angelaufen, es waren Berta Rohr, die die Hühner betreute, und Maria Aretz, die Gänsehirtin. Aufgeregt erzählten sie, da seien zwei polnische Soldaten, die sich für ihren privaten Raubzug von der Truppe entfernt hätten. Sie trügen beide eine Kalaschnikow, gingen von Tür zu Tür und forderten die Herausgabe aller Wertgegenstände. In diesem Moment kam Administrator Bahlow von den Stallungen her angelaufen und berichtete empört von seiner Begegnung mit ihnen. Er war aus dem Pferdestall gekommen, wo die zwei polnischen Soldaten plötzlich wie aus dem Boden gewachsen vor ihm gestanden und ihn mit ihren Kalaschnikows bedrohten. Er hatte die beiden Schäferhunde dabei, die sie sofort erschossen. Es war so schmerzlich für mich und so unglaublich, den Tod des treuen Rex in einem Nebensatz zu erfahren, dass ich meine Tränen nicht zügeln konnte, obgleich es damals das oberste Gebot für einen Jungen war, nicht zu weinen. Jedenfalls nicht, wenn Männer
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