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Die Maikaefer

Die Maikaefer

Titel: Die Maikaefer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Driest
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zugegen waren. Zum Glück nahm niemand davon Notiz, und der Administrator beschrieb, wie ihm der polnische Bandit seine goldene Uhr gestohlen hatte. Er hatte seine Jacke wie immer offen getragen, sodass die goldene Kette seiner Taschenuhr gut sichtbar gewesen war, und der polnische Spitzbub nur zugreifen musste, um um eine goldene Uhr reicher zu sein. »Seiner Pünktlichkeit oder gar Rechtschaffenheit wird die wohl wenig nutze sein«, fügte er voller Groll hinzu.
    Die anderen Beraubten verloren auf diese Weise Eheringe, Uhren und allerlei Schmuck. Als die russischen Panzer zu nahe kamen, hatten sich die Beiden auf ihre Räder geschwungen und das Weite gesucht.
    »Da sind sie«, sagte Onkel Albi, aber es waren nicht die räuberischen Radfahrer – es war die Spitze der russischen Front.
    Wie zwei unheimliche Saurier schoben sich die russischen Panzer in die Kastanienallee. Sie blieben stehen, dann drehte der erste sein Geschütz nach links, sodass er die Häuser der Gutsarbeiter unter Beschuss nehmen konnte, und der andere nach rechts, um die schnurgerade verlaufende Kastanienallee herauf zu zielen. Dicht darauf folgte ein Lastwagen voller Soldaten, die absprangen und unter der Deckung der Panzergeschütze die Arbeitersiedlung durchkämmten. Sie trieben die soeben beraubten Familien aus den Häusern auf die Straße, wo sie von zwei der Soldaten bewacht wurden.
    Inzwischen war die ganze Kaffeerunde herausgekommen und stand wie gelähmt im Haupteingang neben Onkel Albi. Ich hörte eine Stimme flüstern: »Was sollen wir tun?«
    Der alte Herr mit den weißen Haaren sagte: »Wir müssen uns verstecken.« Ein anderer fragte ängstlich: »Wie lange?« Und eine Frau flüsterte noch ängstlicher: »Wo verstecken?«
    Die Ketten der Ungetüme begannen wieder zu mahlen, sie rollten jetzt auf uns zu und trieben all die Menschen vor sich her. Die Soldaten durchkämmten den Kuhstall, den Schafstall, den Fohlenstall, die Dreschscheune, die Stellmacherei, den Pferdestall und jagten alle auf den Platz vor das Herrenhaus.
    Vielleicht hatten sich einige irgendwo versteckt, doch unsere Gruppe, die auf der Freitreppe stand, war zu ratlos und zu geschockt, um irgendetwas zu unternehmen.
    Ich kümmerte mich um Dagi, die nicht aufhören wollte zu weinen, als ein Soldat kam und allen befahl, hinunter in den Hof zu gehen, was er mit seiner Maschinenpistole unterstrich. Erst jetzt bemerkte ich, dass Onkel Albi, Tante Sissi und meine Mutter nicht mehr bei uns waren. Es war ein ziemlicher Schreck, aber ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn alle drängten und zerrten Dagi und mich mit.
     
    Als wir draußen zwischen den Panzern standen, kam der Befehl, alle Deutschen hätten sich in der Dreschscheune zu versammeln. Wie eine halb betäubte Schafherde bewegten wir uns Richtung Scheune.
    »Wenn wir in der Scheune sind, werden wir niedergemäht, und dann wird sie angezündet«, sagte jemand.
    Ich wollte nicht sterben, und in meinem Kopf liefen ganz verschiedene Fluchtpläne ab. Ich nahm Dagis Hand und zog sie an den Rand der Gruppe, von wo aus wir leichter fliehen konnten.
    Plötzlich sah ich, wie Irma Mey und ihre Tochter Elfi zwischen der Scheune und dem Gutshaus auf den Teil der Mauer zugingen, wo die Seitenpforte zum Park ein kleines Stückchen offen stand. Es war schon sehr dämmrig, der Himmel bezogen, und es fing an zu nieseln, eine Mischung aus dünnem Schnee und Regen. Die Parkmauer war grau, das Licht war grau, die Mäntel der beiden Frauen waren grau, und es würde in wenigen Minuten dunkel werden. Die Russen waren auf der anderen Seite unserer etwa vierzigköpfigen Gruppe postiert. Hier auf der Parkseite konnte ich niemanden von ihnen sehen, was ich auch als eine Chance für Dagi und mich einschätzte.
    Wie auf ein Kommando fingen Elfi und ihre Mutter plötzlich an zu laufen. Mein Wunsch, dass den beiden die Flucht gelänge, war so stark, dass ich vergaß, selbst loszurennen. Auf dem Gut hatten alle immer über Elfi und ihre Mutter getratscht und gelästert, weil Irma nicht verheiratet gewesen war und den Namen von Elfis Vater nie preisgegeben hatte. Meine Mutter meinte, das alles sei kein Beinbruch, aber auch kein Grund für Irma, ihre Tochter nun vor allen Männern so scharf zu hüten, dass die sich gar nicht an das bildhübsche Mädchen herantrauten. »Sie wird ja schon knallrot, wenn ein Mann sie bloß anspricht«, hatte sie gesagt. Mir gefiel es, wenn Elfi rot wurde, aber mir gefielen auch ihre bleiche Haut, ihre

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