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Die Manon Lescaut von Turdej (German Edition)

Die Manon Lescaut von Turdej (German Edition)

Titel: Die Manon Lescaut von Turdej (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wsewolod Petrow
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beharrt nicht besonders darauf. All das dient nur der Verführung. Veras wahre Berufung ist die Liebe. Es handelt sich um Metempsychose: Sie ist eine lebende Manon Lescaut«, sagte ich.
    »Nur weiß sie selbst nichts davon. Und Sie erzählen mir Sachen, die Sie eigentlich ihr sagen sollten, aber Sie befürchten, daß sie das nicht verstehen würde. Sie wenden sich auch jetzt gerade an sie«, sagte Nina Aleksejewna.
    »Aber nein, dem ist ganz und gar nicht so«, sagte ich.
    »Natürlich nicht«, sagte Nina Aleksejewna. »Ich wollte Ihnen erzählen, was mit mir war, und Sie haben mir nicht einmal zugehört, fragten nur, was mit Rosaj war und was mit Vera. Wissen Sie, Aslamasjan hat mir gesagt, daß er, hätte er das gewollt, dieses Paar, also Vera und Sie, im Nu auseinandergebracht hätte.«
    »Nun denn, vielleicht«, sagte ich.
XVIII.  Vera war mädchenhaft romantisch, sie war eingenommen von allem Überraschenden und Bizarren, von den großen Themen – nichts Geringeres als Liebe und Tod –, über die sie, zum Glück, nichts sagen konnte. All das führte zu einer eigenartigen Zuneigung zu schlechter Kunst, in der sie möglicherweise doch Wahrheit und große Gefühle erkennen konnte. In ihrer Reisetruhe gab es – außer einer unordentlichen Menge von Kleidern und Röcken – viele Andenken, kleine unnütze Sachen, die wahrscheinlich mit ihrem Leben, mit ihren Romanzen zu tun hatten, aber nicht mit den tatsächlichen, sondern mit von ihrem Gedächtnis ausgeschmückten Romanzen, beseelt von dem Wunsch, gelesene, gehörte, von anderen erlebte Gemütsregungen – schöne, wie sie annahm – an sich selbst zu erproben. Aber sie blieb nicht träumerisch bei diesen Andenken hängen; wahrscheinlich huschte nur ein kleiner Funke durch ihr Gedächtnis, wenn sie darin kramte, für jede Erinnerung nicht mehr als eine Sekunde. Sie hatte mir eine Bildkarte von dem fürchterlichen »Selbstbildnis mit dem fiedelnden Tod« von Böcklin gezeigt.
    »Finden Sie etwa, daß das schön ist, Verotschka?« fragte ich.
    »Nein, schauen Sie bitte auf die Rückseite«, sagte Vera.
    Dort standen ein Datum und der Satz: »Die Vorahnung des nahen Todes beunruhigt mich.«
    Vielleicht erschöpft sich die ganze Romantik darin, sich vor Trivialität und schlechtem Geschmack nicht zu scheuen, ja, nicht einmal zu wissen, daß sie existieren, und sich gleich an jene Themen zu machen, denen – aus Sicht der Menschen der Form – nur Shakespeare und Dante gewachsen sind.
    Sie führte kein Tagebuch – dafür verlief ihr Leben viel zu impulsiv, auch wäre sie gar nicht in der Lage gewesen, es zu schreiben, aber oft wollte sie einen Moment, ein Gefühl, das ihr gefiel, an- und festhalten. Sie nahm dann mein Notizbuch, vermerkte das Datum und schrieb: »Hier ist Ihre Vera. Der Waggon. Die Reise. Ihre Vera.« Ein anderes Mal schrieb sie mir: »Heute liebe ich Sie unheimlich, unwahrscheinlich. Mein geliebter Liebster. Ich liebe, liebe. Ich würde so gerne mein ganzes Leben lang bei Ihnen bleiben. Doch ich spüre, daß etwas passieren wird, aber was das sein wird, kann ich momentan nicht begreifen.«
    An dem Tag, an dem Vera diese Seite für mich schrieb, waren wir in den Feldern, weit von den Waggons entfernt, so weit, daß um uns herum nichts zu sehen war als das leere Feld und der Schnee, der von einer Kruste überzogen war, die Wind und Sonne gehärtet hatten. Es gab keinen Pfad, wir gingen über unberührten Boden. Ich umarmte Vera, sie rutschte aus; ich schaffte es nicht, sie zu stützen, und fiel mit ihr. Schlagartig wurde meine Kehle trocken; ich begann Vera zu küssen, besinnungslos. Nicht ich, sondern sie hätte erschrocken sein müssen; aber Vera erwiderte meine Küsse wie immer. Der Kampf spielte sich eher zwischen mir und mir selbst ab. Ich grub meine Finger ins Eis und zwang mich zum Aufstehen. Vera saß im Schnee, zerzaust, rotwangig und lächelnd.
    In der Nacht erwachte ich von einem Anfall rasender Eifersucht. Rosajs Stimme war neben unserem Waggon zu hören. Ich stürzte zur Tür, zu allem bereit. Ich dachte nicht einmal an Vera und warf mich auf eine schwarze Gestalt, die mir entgegenkam. Es war der Wachposten. Er blieb stehen und nahm Haltung an.
    »Was ist hier los?« fragte ich schroff.
    »Hauptmann Rosaj reist ab, die Truppe ist losgegangen, um ihn zu verabschieden«, meldete der Wachposten.
    »Wohin?« fragte ich.
    »Er wird ganz von uns weg versetzt«, sagte der Wachposten. »Haben Sie das nicht gehört?«
    »Doch, doch«, sagte ich

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