Die Maori-Prinzessin
aus.
»Ich hole jetzt den Doktor«, sagte Hariata und schon war sie aus dem Zimmer gestürzt, um Sekunden später mit dem Arzt zurückzukehren. Hinter ihnen stürzte Lucie ins Zimmer.
»Die Tropfen?«, fragte der Arzt. »Wo haben Sie die Tropfen?«
Eva aber antwortete ihm nicht.
»Suchen Sie in ihrer Jacke nach einem Fläschchen«, befahl er Hariata, die ihm kurz darauf die Tropfen reichte. Er flößte sie Eva direkt aus der Flasche ein. Es dauerte noch einen Augenblick, bis sie ruhiger wurde.
»Was ist mit ihr?«, fragte Lucie, die das Ganze aus schreckensweiten Augen verfolgte.
»Sie wird gleich schlafen«, entgegnete Doktor Webber. Und er behielt Recht. Wenig später war Eva eingeschlafen.
»Was ist mit ihr?«
»Es ist nichts Schlimmes. Es ist nur so …« Zögernd begann der Arzt zu berichten, was das Erdbeben in Roach’s Department Store für verheerende Verwüstungen angerichtet hatte und dass Eva ihren Mann weder tot noch lebendig gefunden hatte.
Während er redete, ließ sich Lucie auf die Bettkante fallen. Und als er geendet hatte, bat sie mit belegter Stimme: »Haben Sie für mich auch so ein Mittel?«
Der Arzt verabreichte auch Lucie eine Dosis, die ihr einen ruhigen Schlaf bescheren würde, und bat sie, sich neben die junge Frau aufs Bett zu legen.
»Er war der Enkel der alten Dame«, raunte Hariata, nachdem auch Lucie eingenickt war.
»Tun Sie mir bitte einen Gefallen«, sagte Doktor Webber. »Bleiben Sie hier. Sie werden gebraucht, wenn die beiden aufwachen. Die alte Dame wird erst dann in vollem Umfang begreifen, was geschehen ist. Es ist gut, wenn jemand da ist. Ich nehme die Heilerin mit. Nichts gegen Sie, aber ich halte sehr viel von den Heilkünsten der Maori, auch wenn mir das viel Unverständnis meiner Kollegen einbringt. Und Sie gehören auch zu dieser Familie?«
»Nein, alle meine Lieben liegen bei den Toten im botanischen Garten. Ich habe niemanden mehr.«
Der Arzt musterte sie eindringlich, bevor er ihr sanft über das Haar strich.
»Diesen Tag wird keiner von uns je vergessen. Unter den Toten war das Mädchen, das ich heiraten wollte, aber ich hatte noch keine Zeit, sie zu betrauern. Die Lebenden brauchten mich.«
Hariata blieb regungslos stehen und sah Doktor Webber bewundernd hinterher. Dann setzte sie sich neben das Bett und wollte dort ausharren, bis die beiden Frauen aufwachten. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich sie. Nun hatte sie ihre gesamte Familie verloren, aber das Schicksal hatte sie zu Eva und den beiden alten Maoridamen geführt, denen sich Hariata seltsam verbunden fühlte.
N APIER , F EBRUAR 1931
Der Sommer zeigte sich noch immer von seiner allerbesten Seite. Der blaue Himmel und die strahlende Sonne passten gar nicht zu der Stimmung, die über dem katholischen Friedhof schwebte. Lucie war nicht die Einzige, die an diesem Tag einen Toten zu bestatten hatte.
Ganz in ihrer Nähe fand die Bestattung von Doktor Thomas statt. Für Lucie hatte es keine Frage gegeben, Joanne im Familiengrab beizusetzen. Dort lagen auch Tom, Tommy und Joannes erster Mann John. Bereits vor dem Wissen um das, was Doktor Thomas kurz vor dem Erdbeben im Wirtschaftsraum versucht hatte, war es für sie keine Frage gewesen, dass dies Joannes Platz war. Nur hatte Lucie nie im Leben damit gerechnet, dass ihre Adoptivtochter vor ihr gehen würde.
Eva fröstelte. Das lag aber nicht an dem kühlenden Schatten, den ein Baum ihnen spendete, sondern an der Tatsache, dass Berenice plötzlich sagte: »Ich bin gleich wieder da. Drüben wird der Doktor beerdigt. Ich werde ihm die letzte Ehre erweisen.«
Harakeke, Lucie, Hariata und Eva blickten einander ungläubig an. Wie so oft in den letzten Tagen fragte sich Eva, ob die Geschichte von der versuchten Vergewaltigung nur Berenices Fantasie entsprungen war oder ob sie das Geschehen einfach verdrängte?
Eva neigte zur zweiten Erklärung, weil die Indizien für einen versuchten Übergriff sprachen. Solche Druckstellen konnten nur entstehen, wenn jemand versuchte, mit Gewalt die Beine einer Frau zu spreizen. Da war sich Harakeke ganz sicher. Was überdies dafür sprach, war die Tatsache, dass Berenice Eva den Übergriff schließlich genauestens geschildert hatte.
Wie konnte sie dann freiwillig zum Grab ihres Peinigers gehen? Eva vermutete, dass es ihr mehr darum ging, Daniel, der nichts von alledem ahnte, beizustehen. Eva hatte ihn noch gar nicht zu Gesicht bekommen, aber da er ganz allein von seinem Vater Abschied nahm, hatte Lucie ihn gebeten,
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