Die Maori-Prinzessin
Ein Blick umher, auf das ganze Ausmaß der Zerstörung, genügte ihr, um sich in Erinnerung zu rufen, was geschehen war. Sie hatte das Gefühl, in einer anderen Stadt zu sein, in einem Albtraum gefangen. Autos waren auf der Straße in Kratern versackt, die Häuser zerstört, überall lagen Trümmer und das, was sie in Richtung der Ahuriri Lagune sah, ließ sie an ihrem Verstand zweifeln. Dort, wo sie heute Nachmittag mit Adrian segeln gehen wollte, war gar kein Wasser mehr, sondern Land. Adrian! Sie musste zu ihm.
»Ich muss meinen Mann finden«, rief sie in Panik aus.
»Erst einmal werden wir deine Wunde im Hospital verbinden«, widersprach Hariata energisch. Eva folgte ihr zögernd. Sie war immer noch wie betäubt. Sie begriff zwar, dass ein Erdbeben all dies verursacht hatte, doch sie konnte noch immer nicht ermessen, was das bedeutete. In der Pfalz hatte es so etwas nicht gegeben. Sie hatte in der Schule davon gehört. Das Erdbeben von Messina fiel ihr ein. Darüber hatte der Lehrer einst gesprochen. Aber dass sie gerade selbst eins miterlebt hatte? Nein, das konnte und wollte sie sich gar nicht vorstellen.
Erst als sie bei dem Schwesternheim oder vielmehr dem, was davon übrig geblieben war, angekommen waren, wurde ihr endgültig bewusst, dass das alles ganz real war. Ein Erdbeben hatte binnen Minuten eine Spur tödlicher Verwüstung über Napier gebracht. Von dem Schwesternheim war nur noch ein Haufen Schutt übrig. Und schon waren kräftige Männer dabei, in den Trümmern nach Überlebenden zu suchen.
»Meine Freundin Amanda ist da drin«, rief Eva entsetzt aus und wollte sich unter die Männer mischen, um selbst nach der jungen Frau Ausschau zu halten. Da entdeckte sie ihren leblosen Körper, der unter einem Steinhaufen lag. Amandas Gesicht war verzerrt. Die Panik vor dem Unfassbaren stand in den Zügen der toten Freundin geschrieben.
»Sie hat vor der Tür auf mich gewartet, als sie von Trümmern begraben wurde. Wenn ich pünktlich gewesen wäre, wäre das nie geschehen«, schluchzte Eva auf.
»Nein, mein Kind, sie war noch im Haus. Sie stand am Fenster. Ich habe es von unten gesehen. Ich habe noch gerufen: ›Lauf, schnell, raus da!‹, aber da kam die zweite Welle. Und das Gebäude stürzte vor meinen Augen in sich zusammen«, sagte eine Stimme neben ihr. Es war die Schulschwester, die sie eingestellt hatte. Eva fiel ihr schluchzend um den Hals, doch die resolute Schwester befreite sich hastig aus der Umarmung.
»Ihr beiden kommt mit mir!«, befahl sie nun. »Wir müssen veranlassen, dass Betten aus dem Krankenhaus geholt und die Verletzten ins Freie gebracht werden. Man weiß nie, ob es noch ein Nachbeben geben wird.«
»Aber mein Mann«, widersprach Eva schwach, doch sie wusste, dass es in dieser Lage vorrangig darum ging, dort zu helfen, wo sie gerade war.
Eva und Hariata folgten der Schwester. Sie hielten einander bei den Händen. Auch die Maori zitterte am ganzen Leib. »Ich möchte auch wissen, was mit meiner Familie ist, aber …« Hariata stockte und schrie auf. In diesem Augenblick schossen in der Ferne Flammen in die Höhe. Sie kamen aus Richtung Innenstadt.
»Ich muss da hin. Ich muss da hin«, brüllte Hariata, aber Eva zog sie mit sich fort zum Hospital. Sie hatte inzwischen eingesehen, dass keine Zeit für das Beweinen persönlicher Schicksale blieb. Sie verstand Hariatas Verzweiflung allerdings zutiefst, denn natürlich wollte auch sie in diesem Inferno bei ihrem Liebsten sein.
Das Krankenhaus war zum größten Teil von Zerstörungen verschont geblieben. An der Tür kamen ihnen zwei Ärzte im Laufschritt entgegen.
»Diese Mädchen sind Schwesternschülerinnen!«, rief die Schulschwester und rannte weiter. »Sie können Ihnen helfen!«
Einer der Arzt nickte ihnen kurz zu und forderte sie auf, ihnen einfach zu folgen, bevor er mit seinem zweiten Kollegen in Richtung Innenstadt davonstob. Dort habe das Erdbeben die Bewohner am schlimmsten getroffen, rief er ihnen zu. Dort herrsche das Chaos! Das bestätigte sich, je näher sie der Hastings Street kamen, wo die Einwohner der Stadt eben noch bei herrlichstem Sonnenschein herumgeschlendert waren, desto mehr sah es so aus, als wären sie auf einem Schlachtfeld. Und immer wieder schossen Flammen aus den zerstörten Häusern. Flammen, die sich in Windeseile ausbreiteten. Und überall gellende Schreie. Neben ihnen mühte sich ein Mann ab, eine Frau aus einem Keller zu befreien. Eva wollte ihm zur Hilfe eilen, aber der Arzt herrschte sie
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