Die Maori-Prinzessin
durch die Stadt schlendern konnte. Bei der gleißenden Sonne, die an diesem Februar bereits am Vormittag vom Himmel strahlte, eine gute Erfindung, dachte Eva, während sie einen Blick auf die Uhr warf. Sie erschrak. Die Zeit war wie im Fluge vergangen. Nun sollte sie sich sputen. Es war kurz vor halb elf, und sie musste zurück zur anderen Ecke der Stadt.
Unterwegs kam ihr eine alte Maori mit einem gegerbten Gesicht und einem Tattoo am Kinn entgegen. Um den Hals trug sie ein Amulett aus Greenstone. Eva musste unwillkürlich an Lucie denken. Offenbar stierte sie die Maori zu sehr an, denn die alte Frau blieb abrupt stehen. »Du musst die Stadt verlassen, ehe es zu spät ist«, raunte sie mit einer unheimlichen Stimme. »Du gehörst nicht hierher!«, fügte sie hinzu. Eva lief trotz der Hitze ein kalter Schauer über den Rücken, denn die Maori musterte sie mit stechendem Blick, und Eva fühlte sich durchschaut. Die Alte sprach die Wahrheit.
»Großmutter, du sollst die Leute doch nicht belästigen!«, rief nun eine junge Maori, die aber nur auf den zweiten Blick als solche zu erkennen war. Im Gegensatz zu ihrer Großmutter war sie wie eine Pakeha zurechtgemacht.
»Entschuldigen Sie bitte, meine Großmutter sieht seit kurzem Gespenster. Sie meint, die Ahnen hätten ihr geflüstert, dass sie mit dieser Stadt untergehen wird. Und nun ist sie einfach aus dem Haus gegangen, rennt seitdem durch die Straßen und ängstigt die Menschen. Und ich soll sie zurückbringen, hat mein Vater verlangt. Aber sie will partout nicht. Ich weiß überhaupt nicht, was ich mit ihr machen soll. Sie schlägt um sich, wenn ich sie anfasse. Mir ist das peinlich, und es passt mir gar nicht, denn in einer halben Stunde muss ich in der Schwesternschule sein, wo mein Unterricht beginnt. Man wird mir kaum glauben, dass ich mich verspäten werde, weil ich erst meine verrückte Großmutter einfangen und nach Hause bringen muss.« Sie lächelte verlegen.
»Ich glaube, da kann ich Ihnen helfen. Ich fange heute auch in der Schule an und werde Ihre Verspätung entschuldigen. Ich heiße Eva Schindler, ich meine, äh …« Eva verbesserte sich nicht.
Die Maori schüttelte dankbar die Hand, die Eva ihr entgegenstreckte. »Ich bin Hariata Tami.«
»Rettet euch!«, ertönte die Stimme der Großmutter beschwörend.
Hariata ergriff beschwichtigend die Hand ihrer Großmutter. Dieses Mal ließ die Alte das zu. »Ich bringe dich jetzt nach Hause. Ich muss doch in die Schule.« Sie drehte sich noch einmal zu Eva um. »Danke, dass Sie das für mich tun. Ich beeile mich. Vielleicht bin ich ja auch noch pünktlich.«
Eva beschleunigte ihren Schritt. Sonst würde auch sie selbst zu spät kommen. Ihre Gedanken schweiften zu Lucie ab. Die Begegnung mit der alten Maori hatte ihr bewusst gemacht, wie sehr sie die alte Dame vermisste. Am nächsten Wochenende aber würden Adrian und sie die beiden Frauen in Meeanee besuchen. Und Eva hoffte, dass sie Zeit fänden, mit der Geschichte voranzukommen. Lucies neuer Plan war nämlich, dass Adrian das Heft zur Hochzeit bekommen sollte …
Eva hatte bereits die Spencer Road erreicht und konnte in der Ferne das Schwesternheim an der Ecke zur Napier Terrace sehen. Ein Blick auf ihre Uhr zeigte ihr, dass sie nur zwei Minuten Verspätung hatte. Es war zehn Uhr 47. In diesem Augenblick hatte sie das Gefühl, als geriete die Erde unter ihr in Bewegung. Sie blieb verwundert stehen, aber alles war schon wieder ruhig. Das habe ich mir wohl eingebildet, dachte Eva noch, als die Erde erneut unter ihr wankte, in Wellenbewegungen auf und ab schaukelte und ein ohrenbetäubender Lärm an ihr Ohr drang. Noch einmal bäumte sich die Erde auf und riss überall um sie herum auf. Eva fuhr herum und sah, wie das Haus, neben dem sie stand, mit lautem Getöse in sich zusammenstürzte. Sie wollte weglaufen, doch stattdessen wurde sie zu Boden geworfen und kam nicht mehr auf die Beine. Das Letzte, was sie sah, waren auf sie zustürzende Trümmerteile.
N APIER , 3. F EBRUAR 1931
»Wach auf. Eva, so wach doch auf!« Eva hörte eine fremde Stimme ganz nahe an ihrem Ohr. Sie glaubte zunächst, dass sie in ihrem Bett lag und träumte, doch dann spürte sie den Schmerz an ihrer Schläfe. Erschrocken riss sie die Augen auf und blickte in Hariatas besorgtes Gesicht.
»Was ist passiert? Wo bin ich?«
»Dich haben Trümmerteile gestreift, aber die Wunde blutet nicht mehr. Kannst du aufstehen?« Die Maori reichte Eva ihre Hand. Eva ließ sich hochziehen.
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